Frau Ryba-Kahn, was ist Liebe für Sie?
Liebe bedeutet für mich, dass man die Fehler der anderen voll akzeptieren kann, sie annimmt und mit ihnen Frieden schließt. Es gibt ja verschiedene Formen der Liebe. Aber ich glaube, dass das Verständnis füreinander das ist, was alle Formen verbindet.
Sie begleiten in Ihrem Dokumentarfilm »Love Till 120« drei Frauen in ihren 90ern. Was haben Sie von ihnen über Liebe gelernt?
Dass es unterschiedliche Formen gibt, dass jede einzelne Liebe ganz anders definiert ist, und dass sie oftmals auch ein Ergebnis dessen ist, was man selbst zu Hause erfahren hat. Vielleicht gebe ich kurz ein Beispiel. Dola, eine der drei Frauen, sagt, dass sie als 14-Jährige das Konzentrationslager auch »so gut« überlebt hat, weil sie in dieser schrecklichen Zeit nicht alleine war. Das unterscheidet sie massiv von den anderen Protagonistinnen, die von ihren Familien getrennt wurden.
Wer sind die drei Frauen?
Sie leben in einem betreuten Wohnheim in Tel Aviv, leben zwar ihren Alltag an diesem Ort, sind alle drei Schoa-Überlebende, aber ganz unterschiedliche Menschen. Daraus ergeben sich auch die unterschiedlichen Blicke, wie sie auf das Leben, auf ihr Alter, auf ihr Frausein schauen. Ich habe angefangen, mich ihnen zu nähern, so, wie man einen Zopf flechtet. Ihre Unterschiede waren mir immer schon sehr wichtig und so möchte ich auch den Film erzählen. Es gibt Thea, die unheimlich elegant ist, extrem charismatisch, und trotzdem spricht sie das, was sie wirklich fühlt, aus. Oder Mado, eine 90-jährige Dame, die wie ein junges Mädchen gucken kann. Ich habe mit allen drei regelmäßig Kontakt, war selbst vor kurzem in Tel Aviv, und es geht ihnen gut.
Sie thematisieren das Alter bei Frauen. Wieso haben Sie sich entschlossen, das in den Mittelpunkt zu stellen?
Es ist eines der drei Hauptthemen des Filmes. Ich finde, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir über alle möglichen Formen der Diskriminierung sprechen, aber nicht über die des Alters. Wir sprechen nicht darüber, was es bedeutet, wenn man nicht mehr jung ist. Wir reden nicht darüber, wie diese Menschen ganz langsam nicht mehr Teil unserer Gesellschaft sind, wie wir sie nicht wahrnehmen oder wahrnehmen wollen, wie sie langsam, durchsichtig und in eine Ecke gedrängt werden. Wir sprechen aber auch nicht darüber, was es bedeutet, dass es auch ein Privileg ist, das Alter zu erleben. Kurz gesagt, ich glaube, wir haben damit ein wirkliches gesellschaftliches Problem.
Wann haben Sie mit dem Filmen angefangen?
2017. Wir hatten zwei längere Drehblöcke. Ich habe immer gehofft, dass ich eine Finanzierung bekomme, bekam allerdings Unterstützung nur die von der Stiftung Zurückgeben, Szloma-Albam-Stiftung, Ursula Lachnit Fixson-Stiftung und der Moin Film Förderung, aber damit haben wir nicht mal ein Achtel der Mindestsumme eines Low-Budget-Dokumentarfilmes von 250.000 Euro zusammen bekommen. Trotzdem bin ich einfach nur dankbar, dass die drei fit sind und ich hoffe, dass wir den Film 2025 bei Festivals zeigen können, wenn uns dann noch ein Festival mit dem Film einlädt.
Ist das etwas, was Ihnen in der Filmbranche bereits begegnet ist – ausgeladen zu werden?
Mir persönlich noch nicht, aber ich würde jetzt lügen, wenn ich sagen würde, ich gehe dem zuversichtlich entgegen: Einen Dokumentarfilm mit dem Thema Schoa zu platzieren in den aktuellen Zeiten, mit Ausnahme von jüdischen Filmestivals, das wird nicht leicht.
Eine der Protagonistinnen sagt, dass sie, nachdem ihr Mann gestorben war, gespürt hat, dass sie lange in seinem Schatten gelebt habe. Geht das den anderen beiden Frauen genau so?
Bei Thea ist das sicherlich so, dass sie nach dem Tod ihres Mannes keine Wahl hatte, als sich unabhängig zu machen. Ich mache mir große Gedanken zum Thema Frausein in der aktuellen Gesellschaft und ich sehe eine Form der Verwirrung in der jüngeren Generationen von Frauen.
Woher kommt die Skepsis?
Ich habe einfach das Gefühl, dass Frauen zwar als gleichberechtigt gelten, aber wenn ich über die inneren Freiheitsgrade nachdenke, dann haben wir noch ganz schön viel Arbeit vor uns und das zeigt sich in den verschiedenen Generationen auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Auch hier fehlt mir ein generationsübergreifender, ehrlicher Dialog zu dem Thema.
Hätten Sie, was die Liebe zu einem Menschen angeht, gern etwas früher gewusst?
Nein, aber um die Wichtigkeit der inneren Werte hätte ich gern mehr gewusst. Wie wichtig auch die Liebe zu sich selbst ist. Denn das ist, was bleibt, wenn alles andere wegbricht – auch mit 99 Jahren.
Zu ihrem Film ist eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Können Sie dazu etwas sagen?
Ja, denn der Film ist einfach unterfinanziert, somit bitten wir das Publikum um Unterstützung, um den Film fertigzustellen. Ich möchte Ihnen einen Einblick in die Realitäten des Filmemachens geben: Das Publikum sieht einen fertigen Film, denkt sich im besten Fall »Wow, toller Film.«, aber was selten zu sehen ist, ist die Discount-Mentalität, die sich in die Dokumentarfilm-Branche eingeschlichen hat. Ich hatte absolutes Glück mit meinem Team, dem ich von ganzem Herzen hier danken möchte, meinen Produzenten, meiner Editorin, den beiden Kameramenschen, die sich über die sieben Jahre hinweg an verschiedenen Zeitpunkten engagiert haben, dass es diesen Film geben kann, und das aus dem Wunsch heraus, diese Geschichten zu erzählen. Man kann eben nicht erwarten, dass Leute sechs Monate umsonst arbeiten. Das geht nicht. Wir müssen von unserer Arbeit leben können. Jeder »Like« hilft dem Film.
Mit der Filmemacherin sprach Katrin Richter.
Sharon Ryba-Kahn ist eine von insgesamt drei Mentees, die vom israelischen Regisseur Tomer Heymann bei »Forecast« betreut werden.