Viele Israelis folgten dem Traum von David Ben Gurion und zogen in die Wüste. Rund 600.000 Menschen haben sich heute im Negev niedergelassen. Doch es ist kein leichtes Leben in der kargen Peripherie. Jobs sind rar. Gute allemal. Und jetzt sind die einst vermeintlich sicheren Arbeitsplätze in den Chemiewerken (Israel Chemicals Ltd. – ICL) auch noch bedroht. Hunderte von Menschen haben bereits ihre Entlassungspapiere erhalten. Nun droht die Gewerkschaft mit einem Generalstreik, der den kompletten Süden lahmlegen soll.
Und dies nur zwei Tage vor den Parlamentswahlen. Wenn bis zum kommenden Sonntag nichts geschehe, werde alles südlich von Aschdod dichtgemacht, von Fabriken über Krankenhäusern bis zu Schulen und Kindergärten, warnt die Arbeitnehmervertretung Histadrut, die den Schritt bereits vor zwei Wochen angekündigt hatte. Im israelischen Arbeitsrecht ist es vorgeschrieben, vor einem Streik eine 14-tägige Entspannungspause zu wahren. Doch nun wollen die Arbeitnehmer nicht mehr länger stillhalten.
Der Druck auf die Regierung wächst. Am Dienstagmorgen zogen Arbeiter und Angestellte zu Hunderten vor die Verwaltungsbüros der ICL in Tel Aviv und forderten in lauten Sprechchören, dass keine Arbeiter mehr entlassen und die bereits ausgesprochenen Kündigungen zurückgenommen werden.
Arbeitslosigkeit Die Beschäftigungskrise belastet die südliche Region stark. In den vergangenen Monaten haben nach Angaben der Gewerkschaft 420 Männer und Frauen der ICL-Zweigstellen Dead Sea Works, Bromwerke und des Düngemittelproduzenten Rotem ihre Jobs verloren. 1000 weiteren droht dasselbe Schicksal. Ohnehin ist die Arbeitslosigkeit hier zwei- bis dreimal so hoch wie in anderen Landesteilen. Doch diese Entlassungswelle, meinen Ansässige, könnte der Region den Todesstoß versetzen.
»Niemand will hier mehr leben, wenn es keine Arbeit gibt«, sagt einer, der seit drei Jahrzehnten bei den Chemiewerken angestellt ist. Aharon Megira spricht stellvertretend für alle, die ihren Job bei ICL bereits verloren haben oder ihn bald verlieren könnten. In ihm brodelt die Wut. »Sie kommen in der Nacht und stecken den Leuten die Schreiben in den Briefkasten. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Die Menschen stehen unter Schock. Gestern erst hat ein Kollege, der fast 30 Jahre in den Werken gearbeitet hat, einen Brief erhalten. Eigentlich hätte er bald eine Pensionsfeier und ein Geschenk bekommen sollen. Es ist unglaublich und eine riesengroße Gemeinheit.«
Privatisierung Die Gewerkschaft fordert, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu persönlich eingreift und die Firmenleitung zwingt, die Kündigungen zu unterlassen. »Denn«, argumentiert Histadrut, »es gibt überhaupt keinen Grund dafür.« Vorsitzender Avi Nissenkorn erklärt: »Wir sprechen hier über die natürlichen Ressourcen des Landes, die dem Staat gehören. Daher rufe ich den Regierungschef auf, die Entlassungswelle zu stoppen und eine Lösung für die Bewohner des Negev zu finden.« Die Chemiewerke, einst in staatlicher Hand, sind in den vergangenen Jahren nach und nach privatisiert worden.
Die Arbeitnehmer sind der Meinung, es handle sich bei den Entlassungen um einen Racheakt der Eigentümergruppe von ICL um den Milliardär Idan Ofer, nachdem das staatliche Scheschinski-Komitee erklärte, das Unternehmen müsse höhere Abgaben an den Staat zahlen. Folglich wurden die Profite geschmälert. »Und trotzdem scheffeln die Werke noch immer Milliarden«, sind die Arbeiter sicher. Der aus Deutschland stammende ICL-Geschäftsführer Stefan Borgas erhalte jährlich etwa 20 Millionen Schekel auf sein Konto, beklagen sie. Und Ofer schaffte es 2015 wieder einmal auf die Forbes-Liste der 500 reichsten Menschen der Welt. Er zog jüngst nach London – angeblich, um Steuern zu sparen. »Es ist eine Schande, was die beiden mit uns machen«, schimpft Megira.
Verschlankungsprozess Die Geschäftsführung von ICL weist Rache oder andere niedere Beweggründe weit von sich. Sie behauptet, dass die Firmen schlicht ineffektiv und unrentabel sind und die Entlassungen zu einem dringend benötigten Verschlankungsprozess gehören. Die Histadrut indes führe illegale Maßnahmen durch und zögere nicht, »auf brutale und gewalttätige Weise das Wohlbefinden der Angestellten und die tägliche Routine der Bewohner des Negev zu gefährden«.
Die Emotionen kochen also hoch im Süden. Doch die Arbeiter sind nicht allein. Die wenigsten verstehen die Schritte der Firmenleitung, Politiker aller Fraktionen zeigen sich solidarisch. Verschiedene Knessetabgeordnete schwenkten gemeinsam mit den Angestellten Fahnen, mehrere Minister und der ehemalige Staatspräsident Schimon Peres stellten sich demonstrativ hinter die Arbeiter.
Auch die lokalen Bürgermeister drängen darauf, dass die Regierung eingreift und die Negev-Region schützt. »Wir werden buchstäblich in die Wüste geschickt«, sagt Megira mit einer Mischung aus Ärger und Verzweiflung in der Stimme. »Wenn das Ben Gurion wüsste – er würde sich im Grabe umdrehen.«