Hüttenkäse isst man im Wadi Nisnas eher selten. Dennoch versteht man auch hier nur zu genau, worum es bei der sozialen Revolution in Israel geht.
Viele Menschen in dem überwiegend arabischen und sozial schwachen Viertel in Haifa gehen mittlerweile jedes Wochenende auf die Straße, um gegen die überhöhten Lebenshaltungskosten zu demonstrieren, einige junge Leute haben ihre schäbigen Wohnungen gegen Zelte eingetauscht. Immer mehr arabische Gemeinden und Intellektuelle schließen sich den Protesten für mehr soziale Gerechtigkeit in Israel an.
Im arabischen Teil der Bevölkerung ist die Armut überdurchschnittlich hoch, die finanziellen Belastungen für viele kaum noch zu ertragen. »Ein hungriges Kind ist ein hungriges Kind«, macht Raja Zatara, einer der Organisatoren des Zeltcamps im Wadi Nisnas klar, »gleichgültig, ob es arabisch oder jüdisch ist«.
Der junge Mann hatte sich der Demonstration in seiner Stadt bereits Anfang des Monats angeschlossen und dabei bemerkt, dass es vergleichsweise wenig arabische Teilnehmer gab. Obwohl bei ihnen die Probleme mindestens genauso drängend sind wie bei den jüdischen Israelis. Also entschloss er sich, ins Zelt zu ziehen und andere aufzurufen, es ihm gleichzutun. Der Erfolg der Aktionen, meint er, »gibt uns allen Hoffnung«.
Peripherie Am vergangenen Wochenende hatten die Initiatoren der Zeltbewegung vom Tel Aviver Rothschild Boulevard ihren Fokus auf die Peripherie des Landes gelegt. Insgesamt gingen mehr als 75.000 Menschen in verschiedenen Städten, darunter Beer Sheva, Afula, Ramat Hascharon, Eilat und Haifa, auf die Straße.
Die Beteiligung der israelischen Araber an den Demonstrationen wird auf etwa 20 Prozent geschätzt, die Tendenz ist steigend. Immer öfter sind Plakate mit dem arabischen Pendant zum »Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit« zu sehen, verschiedene Sprecher rufen auf Arabisch: »Wir wollen den Fall der Tycoone und fordern den Wohlfahrtsstaat.«
Sami Michael, jüdischer Schriftsteller, der in seinen Büchern oft das arabische Leben in seiner Heimatstadt thematisiert, wandte sich während der Kundgebung an die Protestierenden: »Mit 85 Jahren ist es schwer, optimistisch zu sein. Doch diese junge Generation macht mich auf einmal optimistisch. Zum ersten Mal zeigt die Bevölkerung eine Verbindung zwischen Arm und Reich, Stadt und Dorf, Araber und Jude. Ich erinnere mich an nichts dergleichen in Haifa.«
Nazareth Ähnliches sagen auch die Demonstranten in Nazareth, einer vorwiegend arabischen Gemeinde mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil im Stadtteil Illit. Student Achmed Sihlman hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass die »von der anderen Seite« ihn in diesen Tagen verstehen würden. Gemeinsam mit jüdischen Frauen und Männern hatten er und andere schon vor drei Wochen ihrer Wut gegen die zu hohen Preise Luft gemacht. »Wir reden auf einmal miteinander, haben ein gemeinsames Ziel. Das gab es so noch nie.«
Doch nicht alle stimmen ein. Manche sagen, dass man nicht mitprotestieren könne, wenn es nicht auch um die besetzten Gebiete und die Probleme der Palästinenser ginge. Bei den meisten Menschen in der arabischen Gesellschaft sitzt das Miss-trauen gegenüber dieser Regierung besonders tief. Nur wenige glauben, dass ihnen zugehört wird, dass sie überhaupt eine Chance haben, öffentliches Leben in Israel mitgestalten zu können. Im 22-köpfigen Komitee von Premierminister Benjamin Netanjahu, das bei der Lösungsfindung helfen soll, ist nicht ein einziges arabisches Mitglied vertreten.
Auch Sayed Kashua, bekannter und beliebter arabisch-israelischer Autor, schrieb in seiner wöchentlichen Kolumne, dass er ob der sozialen Proteste »verwirrt ist«, obwohl er eigentlich klar für einen Wohlfahrtsstaat sei und obwohl er dieselben finanziellen Probleme habe wie seine jüdischen Nachbarn und Kollegen: »Wir sind Teil der Mittelklasse, die unter den Lasten der Schulgebühren, Steuern, Kosten fürs Kabelfernsehen und den Telefonrechnungen zusammenbricht.«
Und doch fragte sich Kashua: »Warum fühlt es sich unnatürlich an, dort zu sein?« Am Ende fasste sich der Autor ein Herz, demonstrierte nicht nur mit, sondern sprach bei einer Kundgebung 30.000 Menschen in Jerusalem Mut zu.
Veränderung »Jetzt ist die Chance da, etwas zu verändern«, gibt sich Student Sihlman enthusiastisch. »Auch, wenn es vielleicht lange nicht so war, heute müssen wir sie wahrnehmen und uns zu den Protesten bekennen.« Denn die Kritik am überteuerten Leben und dem Mangel an Wohnraum ginge Araber wie Juden gleichermaßen an. »Es ist für uns dasselbe. Wenn etwas dabei herauskommt, profitieren wir alle davon und nicht nur ein Teil. Darüber hinaus gibt es dadurch endlich eine Möglichkeit für einen zwischenmenschlichen Dialog.«
Auch Adalah, das Zentrum für die Rechte der arabischen Minderheit in Israel, ruft zur Solidarität mit den Protestlern auf. In einem Artikel machen Thabet Abu Ras, Direktor von Adalah in Beer Sheva, und Professor Oren Jiftachel, beide Lektoren an der Ben-Gurion-Universität, klar, dass die Beteiligung von Juden und Arabern an den Demonstrationen »etwas Neues und Erfrischendes« sei.
»Ein Kampf für ein gemeinsames Ziel, geführt von unterschiedlichen Gruppen. Jetzt liegt der Fokus noch auf dem Wohnungsmangel«, erklären sie, »doch eigentlich geht es um ein fundamentales Verlangen nach einer gerechteren Gesellschaft«. In den vergangenen Jahren sei jegliche politische Agenda von oben diktiert worden, meist hieß es: Einer gegen den anderen. »Vielleicht kann nun von unten eine großartige multikulturelle Realität erschaffen werden.«