Nava Ruda war zusammen mit ihrer Mutter bereits auf dem Weg in den sicheren Tod. Da stoppte ein Unbekannter den Lastwagen, in dem sie und viele weitere Juden aus Lwiw auf dem Weg in ein KZ saßen, und beorderte den Fahrer umzukehren. »Für mich und meine Mutter war es ein Wunder«, sagte Nava, die bis heute nicht genau weiß, warum damals der Befehl gegeben wurde, der ihr das Leben rettete. Bei einem »Zikaron BeSalon«, übersetzbar mit »Gedenken im Wohnzimmer«, erzählte die 87-jährige Schoa-Überlebende heute in einem Online-Gespräch ihre Geschichte.
Die Veranstaltung wurde von der Stadt Tel Aviv gemeinsam mit dem Büro des Landes Nordrhein-Westfalen in Israel organisiert, dessen Direktor, Gil Yaron, auch die einführende Ansprache hielt. Er beschrieb, wie sich über die Jahre die Wahrnehmung der Überlebenden des Holocaust verändert hat. Heute würden sie nicht mehr als Opfer betrachtet, »sondern als Helden, die Leben vor Tod, Liebe vor Hass und ein neues Schicksal anstatt Verzweiflung gewählt haben«.
HELDEN Eine solche Heldin ist auch Nava Ruda, die von ihrem Zuhause in Tel Aviv aus dem Gespräch zugeschaltet wurde. Sie hat bereits auf zahlreichen »Zikaron BeSalon« gesprochen, einem Veranstaltungsformat, bei dem traditionell an Jom Haschoa Überlebende den Nachgeborenen ihre Lebensgeschichte erzählen.
Als die Nazis ihre Heimatstadt Lwiw in der heutigen Ukraine eroberten, war Ruda sechseinhalb Jahre alt. Das Ghetto, in das sie und ihre Familie gezwungen wurden, war völlig überfüllt, es herrschten Krankheiten und Nahrungsmangel, erzählte Ruda, neben der während des Gesprächs die ganze Zeit ihre erwachsene Enkelin Lian saß.
Bis zu ihrem Tod im hohen Alter hat die Mutter nicht verwunden, dass ihr Kind sterben musste.
»Raus! Raus!«, hätten die Deutschen gebrüllt, als sie bei einer Razzia das Versteck stürmten, in dem sich Ruda und ihre Eltern versteckt hielten, um den Deportationen zu entgehen. Zuvor war bereits ihr sieben Jahre älterer Bruder Schlomo von Nazi-Schergen abgeholt und in ein Arbeitslager gesteckt worden, berichtet Ruda. Als ihre Mutter davon erfuhr, »schrie sie wie ein verwundetes Tier, niemand konnte sie beruhigen«. Bis zu ihrem Tod im hohen Alter in Israel habe sie nicht verwunden, dass ihr Kind sterben musste, während sie selbst überlebt hatte. Dass sie nicht dasselbe Schicksal erleiden mussten, verdankten Ruda und ihre Eltern einer ganzen Reihe von unwahrscheinlichen Zufällen – und ihrem polnischen Kindermädchen.
Jula Jurek versteckte Rudas Familie, nachdem diese heimlich aus dem Lwiwer Ghetto geflohen war. Sie tat dies unter Lebensgefahr und auch dann noch, als der Familie die finanziellen Mittel ausgegangen waren. Von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wurde Jurek dafür der Ehrentitel »Gerechte unter den Völkern« verliehen. Ruda wurde klar, dass sie die Schrecken der Nazi-Herrschaft überlebte hatte, als sie das erste Mal einen Soldaten der Roten Armee in Lwiw sah. »Für mich war er ein Held«, erzählte die Überlebende, die nach dem Krieg mit ihren Eltern nach Israel ging. »Ich habe das Gefühl, die Nazis besiegt zu haben, weil ich am Leben geblieben bin und eine eigene Familie gegründet habe.«
»Die Geschichte des Holocaust muss wieder und wieder erzählt werden.«
Nava Ruda
Doch Rudas Blick auf die Gegenwart ist nicht durchweg optimistisch. Der russische Angriff auf die Ukraine habe gezeigt, »dass sich der Mensch nicht verändert hat«, sagte sie. Man müsse auch deshalb »die Geschichte des Holocaust wieder und wieder erzählen«, weil er sich selbst in der heutigen Welt wiederholen könnte.
VERPFLICHTUNG Gil Yaron, der Bürgermeister von Tel Aviv, zog in seinem Redebeitrag ebenfalls eine Linie zwischen der Schoa und den aktuellen Ereignissen in der Ukraine. Er appellierte: »Wir, die Juden, die wir uns ›Nie wieder‹ geschworen haben, müssen die ersten sein, die den Geflüchteten helfen, die vor diesem grausamen Krieg fliehen.«
Die Verpflichtung der deutschen Seite gegenüber dem Credo »Nie wieder« führte der Justizminister von NRW, Peter Biesenbach (CDU), aus, der sich zum Zeitpunkt des Gesprächs in Jerusalem aufhielt. Für die Deutschen, deren Vorfahren die Ermordung von sechs Millionen Juden verschulden, sei das Wachhalten »der Erinnerung der Verbrechen der Nazis eine zentrale und zeitlose Aufgabe«.
Uwe Becker, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und Beauftragter der Hessischen Landesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, erinnerte daran, dass die Nationalsozialisten nicht vom Himmel gefallen waren, sondern Antisemitismus schon lange vorher in der deutschen Gesellschaft verwurzelt war.
Nun sorge er sich um eine aktuelle Entwicklung: »77 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz erleben wir in Europa einen neuen Anstieg von Antisemitismus.« Neben einer kompromisslosen staatlichen Repression bei Antisemitismus sei, so Becker, vor allem Aufklärung für die Prävention von Judenhass wichtig. Eine Ansicht, die auch Nava Ruda teilt. »Ich hoffe, dass die richtige Bildung Verbrechen gegen die Menschheit verhindern kann«, sagte sie zum Abschluss ihrer Rede.