Live-Ticker

Wie TV-Star Andrea Kiewel die Terrorangriffe in Tel Aviv miterlebt

Ein Brief nach Deutschland in die alte Heimat

von Andrea Kiewel  07.10.2023 19:22 Uhr

Andrea Kiewel Foto: picture alliance / Revierfoto/Revierfoto/dpa

Ein Brief nach Deutschland in die alte Heimat

von Andrea Kiewel  07.10.2023 19:22 Uhr

Dies ist der Live-Ticker eines Morgens, der vorbei ist - und noch lange andauern wird.

7:00 Uhr

Mein Telefon brummt. Eine Nachricht von Rina, Schwiegermutter in spe.
»Are you good – geht es dir gut?« Ich wundere mich nur kurz und antworte: »Oh ja. Wir hatten so einen lustigen Abend bei Freunden. Simchat Tora. Chag same…..« Und da heult die Sirene los.

7:03 Uhr

Ich sitze mit meinem Hund im Mamad, dem kleinen Schutzraum in meiner Wohnung. Er hat keine Tür. Es gab nie eine. Beim hektischen Schließen der Metallfensterläden bemerke ich, dass meine Hände zittern. Es liegt am Klang der Sirene. Dieser Ton. Er geht durch Mark und Bein. Tief ins Herz. Und er öffnet alle Schleusen. Ich weine. Der Hund presst sich an mich. Die Sirene stoppt, und es macht »Bumm Bumm«. Iron Dome, das Schutzschild, für das ich tagtäglich dessen Entwicklern danke, hat die feindlichen Raketen abgeschossen.

7:05 Uhr

Mein Telefon brummt. Und es hört nicht mehr auf. So viele eingehende Nachrichten. Von Familie und Freunden in Israel. Ich lese zuerst die News. Wir werden angegriffen. Von Raketen aus Gaza. »Nicht schon wieder«, denke ich mit meiner inzwischen vorhandenen stoischen israelischen Mentalität. Und ich weiß in diesem Augenblick noch nicht, wie sehr ich mich irre.

7:15 Uhr

Bist Du okay?
Wo bist du?
Brauchst du was?
Geht es dir gut?

Die WhatsApp-Gruppe meines Hauses ist in Höchstform. Gelegentlich blockieren sich unsere Autos gegenseitig an der Einfahrt zum Parkplatz, oder wir schimpfen, weil wieder einer der Nachbarn seinen Müll tagelang im Hausflur hat stehen lassen. In Situationen wie an diesem Samstagmorgen ist das alles vergessen. Wir wollen sicher sein, dass alle sicher sind.

Deutschland schläft noch. Ich beschließe, meiner Mama nichts zu schreiben. Sie würde von all dem noch früh genug aus den Nachrichten erfahren.

7:30 Uhr

Terroristen haben die Grenze zu Israel durchbrochen und töten in den Orten und Kibbuzim im Süden Frauen, Männer, Kinder, Soldaten. Sie nehmen Geiseln und rasen, Salven aus ihren Maschinengewehren schießend, durch die Straßen. Szenen wie aus Horrorfilmen.

Ich finde keine Worte, die auch nur annähernd beschreiben können, was ich fühle. Mein Magen ist ein einziger Krampf. Ich zittere. Innerlich. Äußerlich. Ich weine.

Ich lese und verfolge die News im Sekundentakt und kann es dennoch nicht begreifen. Ich höre sehr nahe das »Bumm Bumm« vom Iron Dome. Aber keine Sirenen in Tel Aviv. Ich frage in der Hausgruppe, ob es sicher ist, jetzt mit dem Hund rauszugehen. Er muss. Ganz dringend. »Geh!«, lautet die Antwort. »Renne in einen Hauseingang, falls es Alarm gibt. Und komm schnell wieder zurück.«

Die Tür zum öffentlichen Schutzraum im Gan Meir, dem schönen Park in meiner Nachbarschaft, steht offen. Andere Hundebesitzer kommen mir entgegen. Und wenn auch sonst jeder immer nur auf sein Handy starrt, heute grüßen alle. Wirklich alle. Man macht sich gegenseitig Mut.

8:30 Uhr

Ich lese die schlimmsten Nachrichten, die es geben kann. In diesem Moment fängt das »Wie kann das sein?«-Karussell an, sich in meinem Kopf zu drehen. Wie ist es möglich, dass Terroristen mit Motorrädern, Toyota-Pickup-Jeeps und aufmontierten Sturmgewehren eine der am besten geschützten Grenzen durchbrechen können?

9:00 Uhr

Mami, bist du okay?
Was zum Teufel ist bei euch los?
Terroristen?
Wo ist die Armee?
Andrea, sollen wir dir einen Flug buchen?
Bist du in Sicherheit?

Die Anteilnahme aus Deutschland ist überwältigend. Ich finde keine Worte. Ich habe nur Tränen. Ich weine um die Menschen, die eiskalt abgeschlachtet werden. Jawohl! Abgeschlachtet. Ich weine um die Geiseln, die in den Gazastreifen verschleppt werden. Die Bilder, auf denen ich schreiende, weinende Kinder sehe, noch im Schlafanzug und sich an ihre Eltern klammernd, sind unerträglich.

Wenn so etwas geschieht, übersteht man das? Kann man das überhaupt überstehen?

10:30 Uhr

Ich zwinge mich, etwas anderes zu machen, als im Nachrichtenstrudel zu ertrinken. Seit Monaten gibt es Auseinandersetzungen im Westjordanland. Araber gegen Siedler. Siedler gegen Araber. Terror. Mord. Tote. Verletzte. Es wird gezündelt und Öl ins Feuer gegossen. Die israelische Regierung spricht kein Machtwort zu ihren gewaltbereiten Siedlern. Wie auch? Deren Partei ist in der Regierung. Es wäre, wie sich selbst ins Bein zu schießen.

Das »stehende Heer« – also die reguläre israelische Armee IDF – besteht aus 173.000 Soldatinnen und Soldaten. Das ist gemessen an 9,7 Millionen Einwohnern und der ständigen Bedrohung von allen Seiten eine kleine Armee. Wenn dann auch noch, so wie in den letzten Monaten geschehen, immer mehr Truppenteile zum Beispiel ins Westjordanland verlegt werden, weil die Situation dort hochbrisant ist, fehlen diese Soldatinnen und Soldaten woanders.

Jedenfalls ist es das, was ich mit meinen israelischen Freunden bespreche. Denn wir alle, unisono, fragen uns, wie es sein kann, dass Israel, genau 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg, erneut so angreifbar, so verwundbar ist.

11:30 Uhr

Der Mann, den ich liebe, ist der Fels in der Brandung. 25 Jahre als Elite-Soldat haben ihn viele schlimme Ereignisse erleben und überleben (Baruch HaShem) lassen. »Es wird noch ein paar Raketen geben. Die Ruhe jetzt ist nur eine Atempause, meine Süße«, sagt er. Seine Lippen sind schmal. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Es geht etwas vor in ihm.

Und dann heult wieder die Sirene. Inzwischen habe ich Wasser im Schutzraum und ein Ladekabel fürs Handy. Die Batterie in der Taschenlampe ist leer. Typisch. »Schuld« ist der Frieden. Wir hatten Frieden. Himmlischen Frieden.

12:00 Uhr

Ich flog letzten Sonntagabend, am 1. Oktober, aus Berlin zurück nach Israel. Ich wurde von EL-AL-Sicherheitsleuten interviewt, musste in einem separaten Raum warten, noch mehr Sicherheitsfragen, man verschwindet mit meinem Pass, kommt zurück. Schließlich darf ich gehen. Ich kenne dieses Prozedere und rege mich nicht mehr darüber auf.

Wenn ich in Tel Aviv auch nur fünf Minuten da parke, wo es verboten ist, bekomme ich einen Strafzettel. Nicht haptisch. Per E-Mail. Mit Foto. Ganz Tel Aviv ist »monitored«, also von Kameras überwacht. Die machen sogar Fotos von hinten. Wenn es einen Ort gibt, an dem man die Nadel im Heuhaufen finden kann, dann hier.

Wie also kann es sein, dass die Grenze zu Gaza so schändlich vernachlässigt wurde? Dass verzweifelte Menschen aus ihren Schutzräumen im Kibbuz die lokalen Fernsehstationen anrufen und um Hilfe schreien, weil Terroristen bereits auf die Stahltüren schießen? Wo ist die Armee? Warum kann dieser Terroranschlag so blutig und gewalttätig über die Bühne gehen? Wieso haben weder Mossad noch Schin Bet etwas geahnt? Warum sind wir so unvorbereitet? Ich weine. Diesmal aus Wut. Und Verzweiflung. Die armen, armen Menschen. Die Kinder. Grundgütiger!

14:00 Uhr

»Andrea. Ich bekam einen Anruf. Ich gehe.« Es sind die Sätze, die ich am meisten gefürchtet habe. Mein Mann zieht die Jeans aus und die Uniform an. Die kugelsichere Weste liegt neben der großen Blumenvase, deren Orange leuchtet wie die Sonne, wenn sie allabendlich im Mittelmeer versinkt. Noch gestern sangen und tanzten wir. Es ist absurd. Makaber. Unrealistisch.

Netanjahu sagt: »Israel befindet sich im Krieg!« Ich bin die Freundin eines Soldaten. Er zieht in diesen Krieg. Um dieses Land, in welches sich seine Familie vor den Nazis retten konnte, zu verteidigen. Er würde sein Leben für dieses, sein Land geben. Es ist in seiner DNA verankert. Ich liebe ihn unendlich dafür.

»Ich komme zurück«, sagt er. Ich stehe auf der Straße und winke seinem Auto nach. Ich winke auch noch, als er längst abgebogen ist. Ich winke und winke. Und ertrinke in meinen Tränen.

16:00 Uhr

Alle bieten Hilfe an:
Komm zu uns!
Brauchst du etwas?
Du solltest nicht allein sein.

Ich befolge den Rat eines Freundes und fahre zum Supermarkt. Wasser, Thunfischdosen, Knäckebrot, Chips. Ich lasse alles im Auto. Die Straßen sind leer. Nur der Wind und ein, zwei »Wolt«-Fahrer kreuzen meinen Weg.

Wenn mir ein Auto begegnet, rast es. Am Steuer junge Männer. Reservisten. Sie eilen zu ihren Armee-Stützpunkten. Gaza wird schon bombardiert. Alle sprechen davon, dass es diesmal sehr, sehr heftig wird.

Ich hebe Bargeld ab. Die Tankstelle hat geschlossen. Es ist Schabbat und Feiertag. Ich habe noch Benzin im Tank. Auf jeden Fall würde ich aus der Stadt herauskommen. Ich packe einen kleinen Rucksack mit Dingen für zwei Tage. Inklusive Deo und Augencreme. Diese Dinge, die zur Routine meines normalen Lebens gehören, beruhigen mich.

17:00 Uhr

Ich höre von der Kaserne, in der man tote Soldaten fand. Nur mit Unterhose bekleidet. Auf dem Boden liegend. Eiskalt ermordet. Während sie schliefen. Sie sind im Alter meines Sohnes Johnny. Auch er war einst Soldat. Hier und in Deutschland.

17:30 Uhr

Die Welt verurteilt den Krieg, den die Hamas-Terroristen gegen Israel führen. Und in Berlin-Neukölln verteilt der Clan-Chef Abou-Chaker Süßigkeiten. Es ist ein Ausdruck seiner Unterstützung der Hamas. Ich schreibe mit geballten Fäusten.

Wie war das möglich? Dass die andere Seite uns hasst, und nach den Friedensgesprächen mit Saudi-Arabien umso mehr, ist keine Überraschung. Aber einfach so – mir nichts, dir nichts – eine Grenze zu durchbrechen? Es klingt wie ein Totalausfall des israelischen Sicherheitsapparates.

Ich weine. Um die Toten, die Verletzten. All das Leid. Aus Sorge um meinen Liebsten. Wie lange werde ich nichts von ihm hören? Bis er wieder zu mir zurückkommt, schlafe ich in seinem T-Shirt, welches er trug, bevor seine Augen von blau zu grau wechselten und er sich in einen Kämpfer verwandelte. Um den einzigen jüdischen Staat der Welt zu schützen: unser Israel!

19:00 Uhr

Um 21 Uhr soll angeblich Tel Aviv bombardiert werden.

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