Kollegen sagen über ihn, er sei »ein echter Mensch« gewesen. »Sehr human, mit einem offenen Ohr für jedermann, der sich seine Entscheidungen nie leicht gemacht hat.« Eigenschaften, die in diesem System offenbar nicht gut ankamen. Derjenige, über den diese Worte gesprochen wurden, ist tot. In der vergangenen Woche nahm sich der Jerusalemer Richter Maurice Benatar das Leben. »Wegen Arbeitsüberlastung«, schrieb er in seinem Abschiedsbrief. Die Vorsitzenden an israelischen Gerichten sind im Dauerstress. Pro Jahr landen auf ihren Tischen mehr als dreimal so viele Fälle wie etwa in Deutschland.
Beispiel Chadera, an einem normalen Werktag Anfang dieser Woche: Im Gericht der Kleinstadt nördlich von Netanya dauern die Verhandlungen bereits bis in die frühen Abendstunden an. Eine Richterin fragt, hört zu und erklärt schon seit Stunden.
Doch das Ende des Tages ist noch lange nicht abzusehen. Alle Bänke im Saal sind voll mit Zeugen und Anwälten. Die Fälle hier drehen sich um Schäden bis zu einem Wert von 15.000 Schekel, umgerechnet etwa 3.000 Euro. Alles Mögliche wird verhandelt: Mietschulden, Autounfälle, Versicherungsbetrug, Geliehen-aber-nicht-Zurückgegebenes und anderes, worüber sich die Menschen streiten und allein nicht einigen können. Dabei landen in diesem Raum lediglich jene, die in einem Schlichtungstermin mit dem Ombudsmann nicht weitergekommen sind.
Freitod So oder ähnlich ging es auch am Jerusalemer Gericht zu, wo Benatar beschäftigt war. Er hatte vor allem mit städtischen Angelegenheiten zu tun, von Baurecht bis zum Streit um ein Knöllchen. Sein Freitod rüttelt derzeit das System an den Gerichten des Landes kräftig durch. Viele Richter machen die Verwaltung für den Selbstmord verantwortlich.
»Das System hat ihn unmenschlich behandelt und bloßgestellt«, klagen sie an. Einige Wochen zuvor war Benatar von Vorgesetzten wegen seiner zu langsamen Arbeitsweise aufgerufen worden, keine Fälle mehr zu hören, sondern stattdessen Urteile zu schreiben, die liegen geblieben waren. Insider wissen, dass dies eigentlich ein unmissverständlicher Aufruf ist zurückzutreten. Das war zu viel für den vor mehr als 30 Jahren aus Rhodesien eingewanderten Familienvater.
Streitfälle Es ist nicht das erste Mal, dass die ausufernde Arbeitsbelastung der Juristen publik gemacht wird. Im vergangenen Sommer schmiss ein Richter am Amtsgericht der Hauptstadt hin, weil er den Stress nicht mehr mitmachen wollte. Daraufhin erklärte die Präsidentin des Obersten Gerichtshofes, Dorit Beinisch, es könne nicht angehen, dass Richter täglich bis spät abends oder sogar in die Nacht hinein arbeiten müssten, um das Pensum zu bewältigen. »Ihr Arbeitsplan beinhaltet nicht das Schreiben von Urteilen«, erklärte sie damals. Das müssten sie zusätzlich machen. »Es ist zwar nicht so, dass kein Richter im öffentlichen Dienst seine Arbeit schaffen könne. Doch es ist sehr hart und sehr aufreibend.«
Gründe für das außergewöhnlich hohe Aufkommen gibt es zweierlei. Zum einen klagen die Israelis gern und oft. Pro Jahr eröffnen von 1.000 Bürgern 184 einen Fall an einem Gericht. In Deutschland sind es mit 177 nur unwesentlich weniger, in Schweden hingegen nur 15.
Pensum Entscheidender aber ist die Anzahl der an einem Gericht angestellten Rechtsprecher. Daraus resultiert letztendlich das effektive Arbeitsquantum. Heutzutage muss ein durchschnittlicher Richter in Netanya, Tel Aviv oder Eilat etwa 2.335 Fälle jährlich bearbeiten, ein deutscher im Vergleich dazu nur 719. In Norwegen darf sich der Kollege bei 61 Fällen pro Jahr ruhig etwas Zeit lassen. Besonders groß ist die Belastung offenbar an den Familiengerichten. Hier hören die Vorsitzenden an 225 Tagen im Jahr Details zu den Sachverhalten, an einem Amtsgericht um die 164.
Die Gerichtsverwaltung erklärte hierzu, dass die Zahl der angestellten Juristen verdoppelt werden müsste, wolle man eine Richter-Fall-Ratio erhalten, die an Gerichten westlicher Staaten existiere. Hinzu komme, dass die Anzahl der sogenannten »Megafälle« ständig zunähme, so die Verwaltung. Damit sind Angelegenheiten gemeint, bei denen es mehrere Angeklagte, viele Zeugen, oft komplexe Vorgänge und umfangreiches schriftliches Material gäbe. Das Finanzministerium sagte, die Zahl der abgeschlossenen Fälle pro Richter nähme zusehends ab, gab jedoch zu, dass die Bürger immer häufiger klagen. Ein Knessetkomitee soll jetzt herausfinden, wie die Arbeit an den Gerichten erleichtert werden kann.
Hofffnung Anwalt Amir Cohen kennt das System. Seit mehr als zwei Jahrzehnten vertritt er Mandanten vor Gericht. »Es ist tatsächlich so, dass ich denke, es kann doch nicht wahr sein, da sitzt doch nicht schon wieder derselbe Richter vor mir. Aber es gibt einfach nicht genug. Sie haben einen wahnsinnigen Druck und müssen manchmal im Minutentakt von einem Fall zum nächsten umdenken.
Es ist wirklich kein Wunder, wenn da jemand auf der Strecke bleibt. Sie sind ja schließlich auch nur Menschen.« Außerdem, meint Cohen, leide die Gerechtigkeit durch das enorme Tempo, mit dem durch einen Fall gehastet werde, denn es könne gar nicht mehr auf jeden Aspekt eingegangen werden. »Man kann nur hoffen, dass die traurige Ge-
schichte von Richter Benatar als Weckruf dient und das Gerichtssystem in Israel verbessert wird.«