Die Schlagzeilen in Israel verheißen dieser Tage wenig Gutes. Jeden Tag neue Auseinandersetzungen zwischen israelischen Sicherheitskräften und palästinensischen Extremisten, dazu eine eingehende Regierung mit rechtsextremen Koalitionspartnern, die wenig Beruhigung verspricht, sondern den schwelenden Konflikt weiter anheizen könnte.
Am Mittwoch vergangener Woche erschütterten zwei Explosionen an Bushaltestellen Jerusalem. Zwei Menschen wurden dabei getötet, der 16-jährige Schüler Aryeh Shupak und der Familienvater Tadasa Tashume Ben Ma’ada (50). Während bislang noch kein Täter gefasst wurde und niemand die Verantwortung für die Attacken übernommen hat, loben die Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad im Gazastreifen jedoch die Taten.
soldatin Seit Anfang des Jahres starben 29 Menschen in Israel durch palästinensischen Terror. Am Dienstag wurde eine Soldatin im Westjordanland von einem Palästinenser überfahren. Augenzeugen berichteten, dass er mit seinem Pkw umgedreht habe, nachdem er die junge Frau am Straßenrand offenbar erblickt hatte, sie absichtlich überfuhr und dann flüchtete. Die Soldatin wurde schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert, nach Angaben der Ärzte sei ihr Zustand aber stabil. Der Täter wurde von Soldaten erschossen.
»Im nächsten Jahr werden wir 30 Jahre Oslo-Abkommen begehen. In den drei Jahrzehnten hat sich die Lage zwischen Israelis und Palästinensern stark verkompliziert. Derzeit sind wir in einer extrem schwierigen Situation, und eine Lösung, selbst wenn sie alles andere als perfekt wäre, rückt dabei in weite Ferne. Es gibt wenig Hoffnung am Horizont«, analysiert Professor Michael Milshtein die Lage.
Der ehemalige Berater für palästinensische Angelegenheiten bei COGAT, der Koordinierungsstelle der IDF von Regierungsaktivitäten in den Palästinensergebieten, ist heute Senior Researcher am Institut für Politik und Strategie (IPS) der Reichman-Universität in Herzliya und Leiter des Palästinensischen Studienforums an der Universität Tel Aviv.
bombenanschlag Milshtein bezieht sich auf die gegenwärtige Situation, den Bombenanschlag von Jerusalem und die andauernden Militäroperationen der IDF im palästinensischen Westjordanland, hält es jedoch für nötig, sich vor allem das Gesamtbild anzuschauen, um die derzeitige Eskalation zu verstehen: Beide Seiten lebten heute in verschiedenen Realitäten.
Daher, so Milshtein, gebe es wesentlich weniger strategische Alternativen als noch vor einigen Jahrzehnten. Dabei gehe es nicht um »Philosophie, sondern um das tägliche Leben beider Völker«. Die gewalttätige Welle, die im April 2022 begonnen habe, könne man durchaus als »Terrorwelle« bezeichnen. Allerdings: Während der Konflikt vor zwei Jahrzehnten wesentlich gewalttätiger war, seien beide Seiten heute besorgter, was die langfristigen Konsequenzen betreffe, stellt der Politikwissenschaftler fest.
Ein Grund sei die sogenannte Generation »Z« im Westjordanland. Gruppen junger Palästinenser, von denen die wenigsten eine Beziehung zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) oder der Fatach hätten. »Im Gegenteil, sie sind davon entfremdet.«
widerstand So etwa die »Lion’s Den« in Dschenin, die von den israelischen Sicherheitskräften als große Bedrohung angesehen werden. Es handle sich dabei im Grunde um eine »Gang junger Männer«, die den Widerstand selbst definieren wolle, sowie eine Reflexion tiefer sozialer und kultureller Entwicklungen, so der Nahostexperte: »Und dies ist eine Gefahr nicht nur für Israel, sondern auch für die palästinensische Führung.«
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, bereits 87-jährig, sei zudem nicht mehr in der Lage, für Ordnung zu sorgen, was die gesamte PA geschwächt habe. Nicht nur in den Augen Israels und der Welt, sondern vor allem in der Wahrnehmung der eigenen Bevölkerung. Korruption, Menschenrechtsverletzungen und mangelnde Zukunftsperspektiven hätten dafür gesorgt.
Der mögliche Kollaps der PA sei wiederum aus Sicht der Armee eine große Bedrohung – sie beschwöre die Regierung, derzeit wie künftig, mit den moderaten Kräften zusammenzuarbeiten, vor allem in Sicherheitsfragen. Diese Koordination sehe die IDF als wesentlich für die Beruhigung der Situation an.
Gruppen junger Männer wollen den Widerstand selbst definieren und sind eine Bedrohung.
Doch der designierte Premierminister in Jerusalem, Benjamin Netanjahu, stimmte bereits zu, den Religiösen Zionisten die Autorität über die Zivilverwaltung zu übertragen, die den Bau, die Infrastruktur und die Sicherheitskoordination im Westjordanland beaufsichtigen. Bezalel Smotrich ist Vorsitzender der Religiös-Zionistischen Partei (HaZionut), einer der rechtsextremen Parteien, die wahrscheinlich der neuen Regierungskoalition angehören wird. Von einer Beruhigung der Lage könne damit keine Rede sein.
Milshtein hofft jedoch, dass die Regierung derzeit keine drastischen Maßnahmen ergreife. »Das könnte zu einer noch breiteren Eskalation führen und sich auf Gaza und sogar die arabische Gemeinde innerhalb Israels ausweiten.« Zwar könne man durch gezielte wirtschaftliche Maßnahmen wie etwa die Vergabe von Arbeitserlaubnissen die Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen ein wenig mindern, diese jedoch nicht vollständig verhindern.
Man dürfe das Problem nicht ignorieren, »auch wenn die meisten Israelis es wohl am liebsten vergessen würden«. Stattdessen brauche man eine Strategie. »In den vergangenen zwei Jahrzehnten hatten wir nur die des wirtschaftlichen Friedens. Das reicht nicht mehr. Wir müssen etwas viel Umfassenderes schaffen – und das, obwohl es keine wirklich gute Lösung gibt.«
grenzen »Eine Zweistaatenlösung ist im Jahr 2022 nicht mehr realistisch.« Schließlich seien das Westjordanland und Gaza zwei verfeindete Einheiten. Auch die geografischen Gegebenheiten hätten sich in den drei Jahrzehnten drastisch verändert. Die Zahl der Israelis, die auf Palästinensergebiet leben, ist von damals rund 100.000 auf etwa 480.000 gestiegen. Es gebe Vorschläge für Interimslösungen, doch die hält Milshtein für »Illusionen«. Mit jedem Tag, der vergehe, nähere man sich de facto einem einzigen Staat – mit Israelis und Palästinensern darin.
Vielmehr glaubt der Politologe an die Wirkung von Grenzen, wenn auch nicht unbedingt sofort an einen unabhängigen Palästinenserstaat. »Ähnlich wie die unilaterale Entscheidung von 2005, eine Grenze zu Gaza zu ziehen, müsste eine klare Begrenzung zum Westjordanland her.« Natürlich werde es Sicherheitsprobleme und wirtschaftliche Abhängigkeiten der Palästinenser von Israel geben, schränkt Milshtein ein. »Doch es ist die eine Lösung, die die Existenz Israels sichert.«