Charedim

Wehrpflicht für alle?

Beter an der Kotel: In Israel müssen jüdische Männer und Frauen generell Wehrdienst leisten, ausschließlich Ultraorthodoxe sind davon befreit. Foto: Flash 90

Einst waren es vier Brüder in der Peretz-Familie. Eliraz, Uriel, Avichai und Elisaf. Heute sind es nur noch zwei. Uriel und Eliraz zahlten den ultimativen Preis. Sie fielen in Israels Kriegen. Daher müssten weder Elisaf noch Avichai heute Reservedienst in der israelischen Armee (IDF) leisten. Sie tun es trotzdem. Freiwillig.

Doch Elisaf Peretz ist erschöpft. »Von 390 Tagen seit Kriegsbeginn habe ich 300 im Dienst verbracht.« Gemeinsam mit den Offizieren der Reserve, Davidi Ben Tzion, Yair Saraf und Tzemach David Shluss, verfasste er einen Brief. In dem Schreiben an Generalstabschef Herzi Halevi kritisieren sie den Mangel an Wehrdienstleistenden aus der ultraorthodoxen Gemeinschaft. Mehr als 1000 Reservisten unterzeichneten das Schreiben aus Solidarität.

»Meine Erwartung war, dass die Armee zu diesem Zeitpunkt bereits geeignete Rahmenbedingungen für die Einberufung der Charedim geschaffen hätte«, erläutert Peretz seine Beweggründe für den Brief. »Wenn 3000 zusätzliche Soldaten Siedlungen und Grenzen verteidigen würden, könnten sie die Reservisten nach Hause schicken, deren Beziehungen zu zerbrechen drohen und deren Geschäfte vor dem Bankrott stehen.«

Reservisten »im Stich lassen«

Die Verfasser warfen der israelischen Armee vor, ihre Reservisten »im Stich zu lassen«, die nach oftmals mehreren Einsätzen in Gaza, an der Nordgrenze oder jetzt im Südlibanon frustriert und ausgebrannt sind. »Während wir an der Front außergewöhnliche Erfolge erzielt haben, zahlten wir an der Heimatfront einen hohen Preis«, hieß es darin weiter. »Unsere Kinder haben einen weiteren Geburtstag ohne uns gefeiert, unsere Partner mussten die Last zu Hause und Familie ohne uns tragen, einige von uns wurden verletzt, wir tragen seelische Narben, viele von uns Reservisten wurden im Kampf getötet.«

Trotz alledem, schreiben sie weiter, »halten wir nicht inne und werden nicht müde«. Dieser Brief sei ein Weckruf an die Armee und zugleich ein Appell an die ultraorthodoxe Gemeinschaft. »Eine Befreiung von der Armee ist kein Privileg«, macht Peretz klar und richtet sich direkt an die jungen Charedim: »Wir brauchen euch wie die Luft zum Atmen. Wir können die Realität nicht akzeptieren, dass ein Prozentsatz der Bevölkerung die gesamte Last trägt. Ich habe zwei Brüder verloren, ein weiterer Bruder ist in der Reserve. Das größte Privileg der Welt ist es zu dienen. Wir brauchen euch!«

Der Streit ist ein Dauerbrenner in der israelischen Politik.

Doch beim Großteil der strenggläubigen Männer scheinen solche Worte auf taube Ohren zu stoßen. Nachdem der neue Verteidigungsminister Israel Katz am Freitag 7000 Einberufungsbefehle für ultraorthodoxe Israelis genehmigt hatte, demons­trierten Hunderte von ihnen in verschiedenen Ortschaften und blockierten die Autobahn Nummer 4 nahe der Stadt Bnei Brak.

Rabbi Zvi Friedman, ein Protagonist der Hardliner-Jerusalem-Fraktion, verurteilte die Verordnung als Maßnahme, die »die Tora zerstört, das Judentum zerstört und alles zerstört«. In einer Erklärung an seine Anhänger schrieb er: »Wir müssen hinausgehen und demonstrieren. Wir werden tun, was wir können, um dies zu verhindern.« Die Entscheidung zur Einberufung wurde vom ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant getroffen, einen Tag, bevor er Anfang des Monats von Premierminister Benjamin Netanjahu entlassen wurde. Katz zog die Entscheidung nach Druck der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara nicht zurück. Die ersten 1000 Befehle wurden vergangene Woche verschickt, der Rest soll in den kommenden Monaten folgen.

Derzeit gibt es schätzungsweise etwa 67.000 Charedim, die wehrfähig sind

Ultraorthodoxe Männer im wehrfähigen Alter konnten jahrzehntelang dem Armeedienst entgehen, indem sie sich in Jeschiwot zum Studium der Tora einschrieben und immer wieder ein Jahr Aufschub erhielten, bis sie das Wehrpflichtalter überschritten hatten. Derzeit gibt es schätzungsweise etwa 67.000 Charedim, die wehrfähig sind. Im Juni entschied der Oberste Gerichtshof, dass es keinen Rechtsrahmen mehr gebe, der es dem Staat erlaube, von der Einberufung ultraorthodoxer Jeschiwa-Studenten abzusehen.

Doch immer wieder drohten die ultraorthodoxen Parteien Vereinigtes Tora-Judentum und Schas mit einem Austritt aus der Koalition, wenn es um die Einberufung ging. Sie forderten ein Gesetz für die generelle Wehrpflichtbefreiung ihrer Söhne ohne finanzielle Einbußen. Netanjahu braucht beide Parteien für das Überleben seiner Regierung.

Laut dem öffentlich-rechtlichen Sender Kan haben Vertraute des Premiers nach dem Verschicken der Einberufungs­bescheide eine Botschaft übermittelt, um die Bedenken der ultraorthodoxen Parteien zu zerstreuen. Darin habe er versprochen, ein Gesetz zu verabschieden, das Ausnahmen vorsieht und die Wehrpflicht außer Kraft setzt, bevor Haftbefehle wegen Verweigerung verschickt werden.

Seit Jahrzehnten versuchen Regierung und Justiz, das Problem zu regeln.

Der Streit um den Militärdienst der ultraorthodoxen Gemeinschaft ist ein Dauerbrenner in der Politik. Seit Jahrzehnten versuchen Regierung und Justiz, das Problem zu regeln, aber es ist nie zu einer stabilen Lösung gekommen. Die religiöse und politische Führung der Charedim widersetzt sich vehement jedem Versuch, junge Männer einzuziehen. Viele ultraorthodoxe Juden glauben, dass der Militärdienst mit ihrer Lebensweise unvereinbar ist, und befürchten, säkularisiert zu werden. Gegner der Wehrpflicht skandieren häufig, sie würden »lieber sterben, als in die Armee zu gehen«.

In Israel müssen jüdische Männer und Frauen generell Wehrdienst leisten, ausschließlich Ultraorthodoxe sind davon befreit. Das Gefühl der Ungerechtigkeit schwelt dadurch bereits seit Jahrzehnten. Seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg, bei dem mehr als 700 Soldaten getötet und über 300.000 Bürger zum Reservedienst einberufen wurden, hat es noch einmal an Brisanz gewonnen.

Die IDF benötigt derzeit etwa 10.000 neue Soldaten

Die IDF erklärte, dass sie derzeit etwa 10.000 neue Soldaten benötigt, 75 Prozent davon in Kampfeinheiten. Aufgrund der besonderen Bedürfnisse charedischer Soldaten könne sie momentan allerdings lediglich 3000 integrieren. Im Sommer hatte das Militär schon einmal 3000 Einberufungsbefehle an Ultraorthodoxe im Alter von 18 bis 26 Jahren versandt. In den Aufnahmezentren allerdings erschienen weniger als zehn Prozent von ihnen, und lediglich rund 100 junge streng religiöse Männer zogen tatsächlich die olivgrüne Uniform an.

Die Reservisten sind zutiefst frustriert. »Kein Teil der Bevölkerung hat mehr das Recht, aufgrund seiner Überzeugungen nicht zu dienen«, schreiben sie in ihrem Brief weiter. »Offensichtlich mangelt es an Taten und Bereitschaft, die lang erwartete Veränderung herbeizuführen.« Für sie aber gibt es keinen Zweifel: »Jeder muss dienen.«

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