Es ist ein besonderes Naturphänomen – und manchmal ein tödliches: die blitzartigen Fluten in der Wüste. Wie aus dem Nichts tauchen im Winter oder Frühling plötzlich tosende Wassermassen in ausgetrockneten Flussbetten auf und reißen alles mit sich. Durch eine derartige »Flash Flood« (Blitzflut) fanden am vergangenen Donnerstag zehn israelische Schüler den Tod, die in der Wüste gewandert waren. Die Tragödie spielte sich in der Wüste Arawa am Nahal Zafit südlich des Toten Meeres ab.
Angehörige, Lehrer, Mitschüler und Freunde trauern um die »jungen lieben Menschen mit den großen Träumen«, wie ein Schuldirektor sie beschrieb. Die neun Mädchen und ein Junge waren alle 17 oder 18 Jahre alt und an der Militärvorbereitungsakademie Bnei Zion in Tel Aviv eingeschrieben.
Es handelt sich um Shani Shamir, Ella Or, Maayan Barhum, Yael Sadan, Agam Levy, Romi Cohen, Gali Balali, Adi Raanan, Ilan Bar Shalom und Tzur Alfi. Regierungschef Benjamin Netanjahu sprach von einer »schrecklichen Tragödie« und sagte: »Ganz Israel trauert um die Kinder, deren Leben viel zu früh endete.« Es sei eine Katastrophe von nationalem Ausmaß.
Hilferufe Die überlebenden Augenzeugen berichten von einer Welle, die drei bis vier Meter hoch war und in Sekundenschnelle alles um sich herum mitriss. Hubschrauber der Polizei und verschiedene Rettungsteams, darunter von ZAKA und Magen David Adom, waren in die Gegend geeilt, nachdem sie Hilferufe erreicht hatten. Sie retteten 15 Teilnehmer aus dem Wasser, doch für die zehn anderen kam jede Hilfe zu spät.
Die jungen Leute waren mit ihren Leitern unterwegs zu einem zweitägigen Kennenlern-Trip. Sie wanderten entlang des trockenen Flussbettes Zafit trotz des extremen Wetters und Flutwarnungen in der Region, die bereits seit zwei Tagen galten. Die Gruppe, die am Rand ging, konnte gerettet werden, doch alle, die in der Mitte wanderten, wurden sofort von den blitzschnell anrasenden Wassermassen, die Geröll mit sich führten, fortgerissen.
Der ZAKA-Freiwillige Yaakov Yifrah beschrieb die Szene: »Ein Leichnam nach dem anderen wurde von den Helikoptern aus dem Flussbett gezogen und dann ins Trockene gebracht. Es war eine sehr schwere Situation, diese vielen toten Schüler zu sehen.«
Eine der Gestorbenen hatte am Tag zuvor in einer Textnachricht ihrer Freundin geschrieben, wie sehr sie sich sorge, auf diesen Ausflug zu gehen. »Ich verstehe nicht, warum wir in eine Gegend müssen, in der alles überflutet ist«, schrieb sie auf WhatsApp. »Wir werden sterben.« Die Polizei nahm am Freitagmorgen den Leiter und einen Ausbilder der Tel Aviver Akademie vorläufig fest. Ihnen wird fahrlässige Tötung vorgeworfen, weil sie angeblich mehrere Warnungen von Experten nicht befolgt hätten. Der Anwalt des Akademieleiters sagte: »Das Herz meines Mandanten ist nach dem Desaster gebrochen.« Der Generalstaatsanwalt leitete eine Untersuchung ein.
Einen Tag zuvor waren bereits ein Mädchen im Westjordanland beim Ziegenhüten und ein beduinischer Junge weggeschwemmt worden; beide ertranken. Am Sonntag mussten 50 ukrainische Touristen aus einem Bus gerettet werden, der in der Judäischen Wüste in der Nähe des Wadi Nahal Tzeelim in den Wassermassen stecken geblieben war. Ein Pkw mit ungarischen Reisenden war ebenfalls in Gefahr. Die Ein-Gedi-Rettungseinheit und die Polizei aus Arad befreiten die Urlauber, niemand wurde verletzt, doch die Straße 90 wurde zeitweilig gesperrt.
Abenteurer Das Wasser, das durch die Wüste schießt, ist aber nicht nur Bedrohung, sondern auch eine beliebte Sehenswürdigkeit bei israelischen und ausländischen Abenteurern. Doch es ist ein gefährliches Hobby: Oft wagen sich die Schaulustigen mit ihren Allrad-Fahrzeugen mitten in die Fluten und müssen von Rettungskräften befreit werden.
Immer wieder warnt die Naturpark- und Reservatsbehörde, dass Laien die Gefahr völlig unterschätzen. Sie bietet im Winter daher geführte Touren an, bei denen die Wassermassen aus sicherer Entfernung bewundert werden können und Erklärungen zur Entstehung der Wüstenfluten gegeben werden.
Adam Eshel, Doktorand am Institut für Geophysik der Tel-Aviv-Universität, beschäftigt sich genau damit. »In diesen Situationen steigt das Wasser rasend schnell.« Vor Kurzem hielt Eshel auf einer Konferenz einen Vortrag zum Thema »Wasserpegel im Kanal« und erläuterte, dass die Oberfläche dabei in einer geraden Linie und nicht allmählich ansteige.
Von null bis zu 40, 50 oder mehr Zentimetern dauert es nur ein oder zwei Minuten. Anschließend kam ein deutscher Wissenschaftler auf ihn zu, der dieses Phänomen als »sehr merkwürdig« bezeichnete. »Er ist an europäische Verhältnisse gewöhnt«, meint Eshel, »doch in der Wüste sind Anstieg und Schnelligkeit des Wassers außergewöhnlich. Es ist geradezu brutal.«
»Das Wasser rast von einem Punkt durch den Kanal, meist ein ausgetrocknetes Flussbett (Wadi), und formt eine Welle, statt gleichmäßig anzusteigen. Es gibt dabei kaum Wasserverlust, da der Wüstenboden derart ausgetrocknet und hart ist, dass er kaum Feuchtigkeit aufnehmen kann.« Der Mangel an Vegetation mache die Erde zudem besonders undurchlässig. »Die riesigen Massen an Wasser rasen damit praktisch ungebremst über die Oberfläche des Kanals und transportieren dadurch Steine und Geröll mit sich, wodurch das Wasser noch gefährlicher wird«, erläutert der Experte.
Wolken Doch wo kommt dieses Wasser in dem Kanal überhaupt her? Die jugendlichen Wanderer waren nicht in tosenden Regenfällen unterwegs im Flussbett. Nach Zeitungsberichten hätten sich die Leiter zuvor bei den Behörden erkundigt und erfahren, dass es um eine bestimmte Uhrzeit Niederschläge geben sollte. Doch die Flut kam vorher.
Eshel erklärt: »Die Wolkenbildung in der Wüste ist anders als zum Beispiel in Tel Aviv oder Jerusalem. Man kann auch im Winter praktisch in strahlendem Sonnenschein wandern, keine Wolke am blauen Himmel sehen und trotzdem unmittelbar von einer Flash Flood bedroht sein. Die Wadis sind sehr weitläufig, und die Regenwolke kann sich kilometerweit entfernt bilden. In der Wüste gibt es zudem die Besonderheit, dass die Wolken klein sind, aber extrem viel Feuchtigkeit halten. Sie geben den Regen blitzschnell ab – der besagte Wolkenbruch. Das Wasser rast dann als Welle von diesen Regenpunkt den Kanal entlang.«
Für seine Doktorarbeit forscht Eshel an einem Frühwarnsystem für derartige Blitzfluten. Dafür bedient er sich der Mobilfunktürme, die heute überall stehen. »Da die Signale zwischen den Türmen durch Regenfall reduziert werden, können wir analysieren, mit wie viel Wasser wir in den Wadis rechnen müssen und in welcher Zeit es an einem bestimmten Ort ankommt.«
Dabei gehe es um genaue Bestimmungen und nicht nur um Annahmen. Obwohl sich die Forschung noch im Anfangsstadium befindet, gebe es durch die Mobilfunk-Infrastruktur präzise Angaben, »und so können wir relativ früh Warnungen abgeben«. Eshel geht von zweieinhalb Stunden Vorwarnfrist aus. Wertvolle Zeit, die Leben retten könnte.