Der Herbst hat Einzug gehalten in Israel. Eine leichte Brise weht durch die Stoffwände der Laubhütten. Manche ziehen dünne Jacken über, während sie ihren Kaffee am Nachmittag trinken. Wo immer Menschen sitzen, heute gibt es nur ein Thema unter den Palmendächern: Wie viele Stunden noch, bis Gilad Schalit wirklich leibhaftig durch die Tür kommt.
Es ist Montag, 17 Uhr. Am Morgen des nächsten Tages schließlich soll es so weit sein: Der israelische Soldat wird nach fast fünfeinhalb Jahren in Gefangenschaft der Hamas endlich wieder frei sein. Via Grenzübergang Rafiach soll er aus dem Gazastreifen nach Ägypten überführt und von dort per Helikopter in die Militärbasis Tel Nof geflogen werden. Hier werden ihn Premierminister Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Ehud Barak und Armeechef Benny Ganz in Empfang nehmen. Die Begrüßung soll schnell und ohne große Zeremonien ablaufen. Denn in derselben Basis warten gleichzeitig seine Eltern Aviva und Noam sehnsüchtig darauf, ihren Sohn in die Arme schließen zu können.
Die Uhren, die Gilads Tage in der Gefangenschaft in aller Welt aufgelistet haben – mehr als 1.940 –, sind fast alle abgeschaltet. Stattdessen wird im Fernsehen und auf Internetseiten nun rückwärts gezählt. Weniger als 24 Stunden noch.
Nicht nur seine Familie und Freunde warten in fast nicht mehr zu ertragender Gespanntheit. Fast die ganze Nation fiebert dem einen Moment entgegen. Dem, in dem Gilad israelischen Boden betritt. Kaum jemand, den sein Schicksal nicht berührt, der nicht mitgebetet und -gelitten hat.
Während es sicher alle der Familie Schalit gönnen, nach der schmerzhaft langen Zeit wieder vereint zu sein, so gibt es in den Stunden der Vorfreude jedoch Stimmen, die das Abkommen zwischen Jerusalem und der Hamas kritisieren. In Jerusalem marschierten am Nachmittag Dutzende von Menschen vom Herzlberg bis zum Obersten Gerichtshof, zum Großteil Angehörige von Terroropfern, die damit in den letzten Stunden gegen den Deal protestieren wollten.
30 Familien waren vor den Obersten Gerichtshof gezogen, um zu verhindern, dass Israel palästinensische Gefangene mit »Blut an den Händen« freilässt. Einer von ihnen ist Jossi Mendelewitch. 2003 wurde sein Sohn Juwal bei einem Terroranschlag getötet. »Krieg ist immer schlimm, da sterben Menschen«, sagte er im Fernsehkanal 2, »und andere enden in Gefangenschaft.« Diese Kampagne zur Freilassung von Gilad Shalit ist in seinen Augen nichts als Gehirnwäsche gewesen. »Es ist völlig falsch, diesen Preis zu bezahlen.« Einhellige Meinung der Abkommensgegner ist, dass durch die Freilassung von verurteilten Mördern »der Terrorismus gewinnt«. Netanjahu erklärte in einem Brief an die Familien, dass er ihren Schmerz verstehe.
Gilads Vater saß während der gesamten Verhandlung im Gerichtssaal und betonte, dass jede Verzögerung des Abkommens »das Leben meines Sohnes gefährdet«. Das Urteil wird in den nächsten Stunden bekanntgegeben. Experten gehen davon aus, dass sich das Gericht aus der politischen Entscheidung heraushalten wird.
Auch in Ramalla sind nicht alle Menschen himmelhochjauchzend. Dutzende von Familien versammelten sich auf dem zentralen Platz der Westbank-Stadt mit Bildern ihrer Angehörigen in den Händen. Die Väter, Mütter und Ehefrauen verlangten die Freilassung der palästinensischen Gefangenen, die nicht im Abkommen enthalten sind. Währenddessen laufen in mehreren israelischen Gefängnissen die Vorbereitungen auf Hochtouren. 1.027 Häftlinge, die im Austausch mit dem Israeli freigelassen werden, müssen identifiziert, untersucht und schließlich in verschiedenen Etappen gen Westbank oder Gazastreifen gebracht werden.
Den ganzen Tag über laufen Nachrichtensendungen auf sämtlichen lokalen Fernsehstationen. Auf Kanal zwei werden immer wieder Bilder der jahrelangen Kampagne zur Freilassung von Gilad Shalit eingeblendet. Aktivisten in weißen T-Shirts sind zu sehen, wie sie protestieren, durch das Land marschieren und schließlich nach Bekanntgabe der bevorstehenden Freilassung tanzen, lachen und einander in die Arme fallen. Dazwischen Fotos des jungen Israelis, dessen Gesicht heute fast die ganze Welt kennt. »Gilad lebt noch«, lautete fünf Jahre lang das Motto. Heute heißt es: »Anachnu mechakim lecha babait - Wir warten zu Hause auf dich«.