Im Flur steht noch der Stoffbeutel. Eine Tüte Salzbrezeln, Müsliriegel, vier Äpfel und zwei große Flaschen Wasser sind drin. Alles, was ich auf die Schnelle finden konnte, habe ich hineingeworfen.
Eine halbe Stunde vorher weckte mich mein Mann mit den Worten: »Es ist besser, du stehst jetzt auf.« Zwar ist der Sonntag in Israel ein Schultag, doch, obwohl völlig schlaftrunken, war mir sofort klar, dass noch Ferien sind. Ich blinzelte, und da stand er, das Telefon in der Hand, tiefe Sorgenfalten zwischen den Augenbrauen.
Ich zog mich an, während er mir das Sicherheitsbriefing gab. »In der Nacht gab es einen massiven vorsorglichen Angriff der IDF gegen die Hisbollah. Sie haben Raketenwerfer zerstört, die Tel Aviv um fünf Uhr morgens hätten angreifen sollen.« Jetzt war es sechs Uhr und mein Herz raste. »Da ist er wohl«, sagte er noch.
Es heißt, die Hisbollah könne »jedes Ziel in Israel erreichen«
Mit »er« meinte mein Mann den Krieg. Nicht den, der noch immer in Gaza gegen die Hamas geführt wird, und von dem wir hier in Tel Aviv nicht mehr viel mitbekommen. Das meine ich mitnichten zynisch, doch so sieht unsere Realität aus. Wenn wir vom Krieg sprechen, meinen wir den, in dem wir nicht wüssten, wohin.
Es ist kein Geheimnis mehr, dass die Hisbollah im Libanon nicht nur bis an die Zähne bewaffnet ist, sondern heutzutage über Präzisionswaffen mit enormer Sprengkraft verfügt, die jedes Ziel in Israel erreichen können. In einem Interview erklärte mir ein Sicherheitsexperte einmal, dass es bei einem umfassenden Krieg mit der Hisbollah in Israel eine »nie dagewesene Zerstörung« geben könnte. Die Israelis hätten keine Vorstellung davon, wie groß die destruktive Kraft in den Händen der Terroristen sei.
Ich will es mir nicht vorstellen! Meine Kinder schlafen in ihren Zimmern. Im Vergleich dazu seien die Waffen der Hamas nicht einmal der Rede wert, hatte der Fachmann noch gesagt, um seine Worte zu unterstreichen. Doch auch beim Beschuss Tel Avivs aus Gaza wackelten unsere Wände, ging mir jeder dumpfe Knall durch Mark und Bein. Wenn wir in unserem Treppenhaus die Angriffe der Hamas aussaßen, zählten wir die »Booms«.
»Die Booms sind die israelischen Superhelden in Aktion. Sie heißen Iron Dome, David’s Sling und Arrow.«
Das aber waren glücklicherweise nur in den seltensten Fällen die Einschläge der Gaza-Geschosse, sondern meistens die israelischen Superhelden in Aktion. Sie heißen Iron Dome, David’s Sling und Arrow. Gute Namen für Superhelden, die tagein, tagaus Leben retten, finde ich.
Die Luftabwehr der IDF ist hochentwickelt, weltweit unvergleichbar und gibt mir – und ganz bestimmt allen Israelis – zumindest ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Ich will mir nicht ausmalen, wie es hier in Zeiten des Krieges wäre, wenn es sie nicht geben würde.
Und doch wiege ich mich nicht in Sicherheit. Sollte die Hisbollah oder der Iran einen massiven Angriff auf Israel starten, womöglich gleichzeitig, will ich mich nicht auf meiner Treppe darauf verlassen, dass mir die Superhelden einen Rundumschutz gewähren.
Vor rund 70 Jahren, als die ersten Bunker für die Öffentlichkeit gebaut wurden, ertönte die Sirene eine halbe Stunde vor dem Einschlag. Heute, im Zeitalter hochentwickelter und rasend schneller Geschosse in den Händen der Terrororganisationen, haben wir kaum noch Zeit, um uns in Sicherheit zu bringen. Je nachdem, wo man lebt, hat man 15 bis 90 Sekunden, sobald die Sirene losschrillt oder die App des Heimatfrontkommandos von Mobiltelefonen »Zewa Adom« (roter Alarm) brüllt.
Um sieben Uhr morgens verkündete die Stadtverwaltung, dass 240 öffentliche Sicherheitsräume geöffnet seien. So schnell wir auch laufen, wir brauchen eineinhalb Minuten zum nächsten öffentlichen Bunker. 90 Sekunden. Dabei nicht eingerechnet ist die Zeit, die wir benötigen, um zur Haustür zu kommen. Oder was ist, wenn jemand gerade unter der Dusche steht … Außerdem ist nicht klar, ob die Bunker, meist jahrzehntealt, tatsächlich auch gegen die hochentwickelten Langstreckenraketen Schutz bieten.
Die unterirdischen Stationen der U-Bahn fühlen sich sicher an
Im Notfall könnten auch Tiefgaragen genutzt werden, hieß es in der Nachricht der Stadtverwaltung noch. Wohl eher, um mich zu beruhigen, ging mein Mann los, um Parkhäuser auszukundschaften. Ich dachte währenddessen an die U-Bahn-Stationen. Fast genau auf den Tag ist es ein Jahr her, dass der sogenannte Light Rail die Fahrt aufnahm und Tel Aviv das Flair einer echten Metropole bescherte. Der Zug ist weiß und schick, die Stationen sind großzügig, sauber, hell und haben Wifi. Vor allem aber liegen sie tief unter der Erde, ganze 24 Meter. Das fühlt sich sehr sicher an.
Dass der Weg zu nächsten Station 15 Minuten dauert, verdrängte ich. Mein Mann fragte, wie ich dahin kommen will, als er mir die stickige Parkgarage empfahl, die nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt ist. »Im Falle eines Falles müssten wir wohl erst einmal dableiben«, sagte ich leise. Er, der Israeli, schüttelte den Kopf und raunte etwas von: »Natürlich, wir ziehen in die U-Bahn…« Mir war nicht zum Lachen zumute. Nach Wochen des »Wartens« auf einen Krieg waren die Nerven zermürbt.
Einige Stunden später gab die israelische Armee Entwarnung. Die Hisbollah hatte den Norden beschossen, die Superhelden waren wieder im Einsatz, und wir blieben verschont. Bis jetzt.
Die Tage danach konzentrieren wir uns auf den Schulbeginn am 1. September. Meine Kinder füllen Etuis und Schulranzen mit den neuen Stiften und Büchern, kleben Namensschilder auf ihre Hefte. Auch ich packe einen Rucksack mit dem Nötigsten und stelle ihn in den Flur. Für den Umzug in die U-Bahn.