Sie hatten sich ein wahrhaft schmuckes Plätzchen ausgesucht. Die ersten Pioniere in Eretz Israel hatten offenbar Sinn für Schönheit. Im Westen nichts als blaues Meer, im Osten die Weite des Landes vor der Haustür – so schmiegt sich das Städtchen Zichron Yaakov an die Hänge des Carmelgebirges. Vor 130 Jahren beginnt die Geschichte der jüdischen Besiedlung dieses zauberhaften Fleckchens an Israels nördlicher Küste. Heute ist der Ort Ausflugsziel für inländische wie ausländische Besucher, in dem man Geschichte mit allen fünf Sinnen erleben kann.
»Das ist wirklich das Einzigartige«, findet Rachel Biton, die gerade eine Führung entlang der Sehenswürdigkeiten hinter sich hat, »dass historische Fakten hier so allgegenwärtig und ins Alltagsleben eingebunden sind. Man begegnet ihnen in jeder Straße, an jeder Ecke.« An einem sonnigen Samstagnachmittag ging es in 90 Minuten für sie und ihre Familie mit einer gebuchten Tour entlang der Weinroute, zu den Gründerhäusern, dem Museum der ersten Alija, der Synagoge und dem Aaronson-Haus bis zum alten Hügel Samarin. An jeder dieser Stationen wurde Geschichte geschrieben. »Und es ist wahnsinnig interessant, diese kleinen Anekdoten, die Geheimnisse und Schicksale zu hören, die sich in den Gebäuden abgespielt haben.«
Rothschild Alles begann im Jahr 1882. Damals kauften hundert Mitglieder der zionistischen Bewegung Chowewei Zion in Rumänien ein Stück Land im damaligen Palästina, auf dem sie Landwirtschaft betreiben wollten. Das steinige Terrain jedoch verlangte den Neuankömmlingen zu viel ab, Malaria gab ihnen den Rest. Die meisten verließen das Gelobte Land, das die Versprechungen nicht hielt, innerhalb der ersten zwölf Monate. Die Verbliebenen jedoch mussten nicht mehr lange darben: Ein Jahr darauf kam ihnen Baron Edmond James de Rothschild wie ein rettender Engel zu Hilfe.
Er nannte das Örtchen seinem Vater zu Ehren Zichron Yaakov und ließ entlang der Hauptstraße Häuser im französischen Stil errichten – samt Ziegeldächern, Innenhöfen und einem Stückchen Land, das die Pioniere landwirtschaftlich nutzen sollten. Rothschild sorgte dafür, dass jeder für seine Arbeit angemessen entlohnt wurde.
Nach einigen wirtschaftlichen Misserfolgen half der Baron 1885 beim Aufbau der ersten Weinkellerei des Landes, Carmel-Mizrachi. Er hatte ins Schwarze getroffen. Noch immer ist der Rebensaft in Zichron Yaakov allgegenwärtig. Die großen Kellereien Carmel und Tishbi exportieren ihre hervorragenden koscheren Weine mittlerweile in die ganze Welt. Vor Ort laden sie zu Besichtigungen und Proben ein, in diversen Restaurants und Cafés können sich die Besucher zudem von der Qualität überzeugen.
Untergrund Ebenfalls an der Hauptstraße liegt das Aaronson-Haus, wegen seines rosafarbenen Anstrichs nicht zu verfehlen. Hinter diesen Mauern spielten sich einst dramatische Szenen ab, deren historische Folgen die Kinder in Israels Schulen noch heute lernen. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs lebte der bekannte Agronom Aaron Aaronson mit seiner Familie in der Stadt. Die regierenden Türken machten den jüdischen Bewohnern das Leben schwer. Um deren Herrschaft zu untergraben, gründete Aaronson die geheime Untergrundorganisation NILI, die Informationen an die Briten lieferte. Auch seine Schwester Sarah arbeitete bald als Spionin. Eines Tages jedoch wurde die junge Frau von den Türken verhaftet und gefoltert. Das Ende könnte nicht tragischer sein: Um keine Geheimnisse zu verraten, nahm sie sich in der Gefangenschaft das Leben.
Nachdem die Briten die Herrschaft in diesem Teil des früheren Osmanischen Reiches übernommen hatten, begann Zichron zu wachsen und zu gedeihen. Heute leben rund 18.000 Menschen hier. Gemeinsam mit ihnen spazieren Touristen aus aller Welt über das Kopfsteinpflaster, lassen sich unter Sonnenschirmen einen Kaffee Hafuch oder eine kühle Limonade schmecken. Die Hauptstraße hat sich mittlerweile zur schmucken Fußgängerzone, genannt Midrachow, gemausert. Die meisten der Häuser sind professionell restauriert und zu Läden und Galerien umfunktioniert worden. Der Charme von einst ist dennoch erhalten geblieben.
Pioniergeist »Keine Frage, er ist da«, sagt Touristenführerin und Restaurantbesitzerin Dganit Azoulay überzeugt. »Ich fühle ihn in jedem Haus und jeder Farm.« Für sie versprüht Zichron Yaakov noch heute den zionistischen Geist der einstigen Pioniere. »Die Menschen von damals sind eine Inspiration für mich. Mit Motivation und eisernem Willen haben sie etwas Wundervolles aus dem Nichts geschaffen.« Diese Überzeugung will Azoulay ihren Gästen in den 90-minütigen Touren vermitteln. Sie erzählt von den Gebäuden, den Errungenschaften und Misserfolgen, der Geschichte und Kultur des Rebenanbaus in Israel und den Menschen in der Stadt.
Anschließend geht es in ihr Restaurant Adama (Land), das in einem 120 Jahre alten Heuschober untergebracht ist. Neben kulinarischen Genüssen und den Weinen der Region gibt es auch hier jede Menge Atmosphäre von damals zum Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken – und Genießen.