Die meisten haben die Balustraden ihrer Balkone schon Tage vorher mit Wimpeln bestückt. Einige Hochhäuser schmücken meterlange Fahnen: zwei blaue Streifen auf weißem Grund, in der Mitte der Davidstern. Am Jom Haazmaut tanzen die Israelis auf den Straßen und feiern ausgelassen ihre Unabhängigkeit. Sie sind stolz auf ihr Land.
Darauf, dass sie ein Zuhause haben, in dem sie frei und ungehindert als Juden leben können. Doch der Weg dorthin war steinig und schwer. Vor genau 64 Jahren bedurfte es mutiger Kämpfer, um den großen Traum des zionistischen Vaters Theodor Herzl, eine jüdische Heimstätte zu errichten, Realität werden zu lassen.
Schon einen Tag, nachdem der erste Ministerpräsident David Ben Gurion den jüdischen Staat am 14. Mai 1948 ausgerufen hatte, standen die militärischen Mächte von Ägypten, Syrien, Jordanien, Saudi-Arabien, dem Irak und Libanon an sämtlichen Grenzen. Bis an die Zähne bewaffnet und in ihrer Zahl den jüdischen Kämpfern haushoch überlegen.
Die Armee des gerade geborenen Staates Israel war zusammengewürfelt aus Pionieren und Überlebenden des Holocaust, trotzdem hervorragend ausgebildet und organisiert. Vor allem aber waren Entschlossenheit und Überlebenswille der neuen Israelis stärker denn je. Mit dem Mut der Verzweiflung schlugen sie die übermächtigen Feinde in die Flucht.
Vermächtnis Einer von ihnen war Chaim Boss. Eingewandert 1930 als 24-jähriger junger Mann aus Berlin, kämpfte er im Unabhängigkeitskrieg Seite an Seite mit seinen Kameraden aus aller Welt für den jungen Staat Israel – die neue Heimat. Chaim ist 1984 verstorben, doch er hat ein imposantes Vermächtnis hinterlassen. Seine eigene Familie, die in die Fußstapfen des einstigen Pionieres trat. Sowohl Sohn Oded Bonneh als auch sein Enkel Dan dienten in derselben Zahal-Einheit wie Chaim, in der Artillerie.
Urenkelin Rotem Bonneh ist vor fünf Monaten eingezogen worden. Und auch sie hat sich für den Dienst bei den Bodentruppen entschieden. Rotems Saba-Raba, wie die Israelis ihre Urgroßväter liebevoll nennen, gehörte zu der Truppe von 42 Männern, die als erste jüdische Einwanderer in der britischen Armee kämpften.
Die Engländer schickten ihn zum Schutz der Küste in den Marinestützpunkt Stella Maris in Haifa. Während des Zweiten Weltkriegs war er in Italien stationiert. »Er und seine Kameraden haben während dieser Zeit ein italienisches U-Boot versenkt«, erzählt Rotem.
Doch das für sie weitaus Bedeutendere: »Mein Saba-Raba hat die Abteilung, in der ich diene, mitgegründet. Das macht mich sehr stolz.« Als 1944 die erste jüdische Brigade innerhalb der britischen Armee ins Leben gerufen wurde, war auch Chaim dabei. Aus dieser Brigade ging die Einheit der 18-Jährigen aus Zur-Igal hervor.
Auch ihr Großvater, Oded Bonneh, war ein bedeutender Mann in der Zahal. Er kämpfte im Sinai-Krieg von 1956 und hatte anschließend bis 1980 verschiedene Führungspositionen inne. Unter anderem war er Kommandant der gesamten Artillerie des Nordens. Seine Erfahrungen bei den Bodentruppen hat er in einem Buch festgehalten: Lehiot Totchan, zu Deutsch »Artillerist sein«. In dem Werk von 1993 gibt er neben technischen Anleitungen für zukünftige Soldaten auch Einblick in die Historie seiner Familie. Zusammengefasst für ihn: »Einmal Artillerist – immer Artillerist«.
Lernen Während seiner ersten Jahre in der Armee sei er stets »der Sohn von …« gewesen. »Obwohl ich ihr vorgesetzter Offizier war«, erinnert sich Bonneh mit einem Schmunzeln. Gestört hat es ihn nicht. »Im Gegenteil, es war mir eine Ehre, als der Sohn von Chaim angesprochen zu werden.«
Ebenso stolz ist Oded auf seine Enkelin. »Ihre Überzeugung zu sehen, macht mich sehr glücklich«, sagt der Großvater. Rotem hat ihr Bewusstsein für die Familiengeschichte nach eigener Auskunft bereits früh entwickelt. »Schon mit zwölf war ich sicher, dass ich diejenige sein sollte, die die Tradition hochhält. Ich hatte vor, in der Armee etwas Bedeutungsvolles zu machen. Und da schien es mir das Richtige, mich meiner Vorfahren zu besinnen.« Druck von zu Hause gab es dabei nicht.
»Es war ganz allein meine Entscheidung, ich wusste, das ist genau das, was ich will.« Bereut hat sie den Schritt nicht. »Die Artillerie ist eine wunderbare Einheit, Aufbau, Technik der Maschinen und Fahrzeuge sind total interessant, und man lernt ständig Neues dazu.«
Den 64. Unabhängigkeitstag verbringt Rotem bei ihrer Einheit in der Basis in den Golanhöhen. Mit weichen Knien und stolzgeschwellter Brust. »Es ist sehr bewegend, bei den Zeremonien zu sein und zu wissen, dass meine Angehörigen vor mir genau hier waren«, sagt die junge Israelin und zupft ihre olivgrüne Uniform gerade. »Ich denke daran, dass meine Vorfahren an diesem Tag für mich, meine Familie und Freunde gekämpft haben, um uns ein Leben in Sicherheit und Frieden zu schenken. Und ich bin unendlich glücklich, ein Teil davon zu sein.«