Während Israel die größte Krise seit Jahrzehnten durchmacht, leisten sich Politiker Machtspiele, die eine Entschärfung des Corona-Notstands blockieren. Sie sind unfähig, mit einer kohärenten Wirtschafts- und Gesundheitspolitik Vertrauen bei den Bürgern zu schaffen. Dagegen gibt es seit Wochen Widerstand auf der Straße.
Am vergangenen Wochenende demonstrierten laut Angaben der Polizei mehr als 10.000 Menschen vor der Residenz des Premierministers, mehrere Tausend versammelten sich in der Nähe von Netanjahus privatem Haus in Caesarea, und in Tel Aviv waren es mehrere Hundert. Auf rund 250 Brücken und Straßenkreuzungen kam es im ganzen Land zu spontanen Kundgebungen.
umfrage Nach einer am Mittwoch veröffentlichten Umfrage des Israelischen Demokratieinstituts befürworten 58 Prozent der Bevölkerung die Proteste gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung, und 45 Prozent sind damit einverstanden, dass die Proteste auf Netanjahu fokussiert sind.
Auch für das kommende Wochenende sind Demonstrationen angesagt. Sie werden wie bisher nicht von Politikern oder Parteien organisiert, sondern von mehreren Graswurzel-Gruppen.
Dazu gehören zum Beispiel »Ein Matzav« (»So nicht«) des Reserve-Brigadegenerals Amir Haskel, der 32 Jahre in der Luftwaffe gedient hatte, oder die »Hozeh Hadash«-Bewegung, die einen (nicht definierten) »neuen Vertrag« anstrebt und seit Monaten mit dem Plakat »Crime Minister« unterwegs ist. Sie fordert, dass der in drei Korruptionsfällen angeklagte Netanjahu zurücktritt. Mit dabei ist auch die Schwarze-Flagge-Bewegung, die gegen die soziale Not protestiert.
MISSTRAUEN Premier Netanjahu und sein ehemaliger Herausforderer Benny Gantz hatten bei ihrem überraschenden Schulterschluss im Mai zwar versprochen, die bisherige Feindschaft zu überwinden, um die Nation gemeinsam durch die Corona-Krise zu steuern. Doch aus der Harmonie wurde nichts. So streiten Gantz und Netanjahu über eine Justizreform oder die Annexion des Westjordanlandes, und bei öffentlichen Auftritten machen sie keinen Hehl aus ihrem gegenseitigen Misstrauen.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterstützt die Proteste.
Statt das Land von der Corona-Plage zu befreien, hat sich die Lage unter dem Duo Gantz-Netanjahu drastisch verschlimmert. Vorbei ist die Zeit, als sich Netanjahu als Musterschüler im Kampf gegen Corona feiern lassen konnte. Gemessen an den täglichen Pro-Kopf-Fallzahlen ist Israel in einer Tabelle der »New York Times« auf Platz sechs zurückgefallen. Schlechter als Israel schneiden nur die USA, Südafrika, Panama und zwei Golfstaaten ab.
Das kommt nicht von ungefähr. Eine kohärente Corona-Strategie lässt sich in Jerusalem nicht erkennen. Wiederholt hat die Regierung Einschränkungen beschlossen, um sie wenige Stunden später wieder aufzuheben, weil eine effiziente Lobby entsprechend Druck gemacht hatte.
erleichterungen Auffallend ist dieser Mechanismus vor allem bei Erleichterungen, die Orthodoxe für sich durchsetzen können. Obwohl Ausländer nicht einreisen dürfen, erhielten diese Woche rund 15.000 Jeschiwastudenten aus den USA und Großbritannien die Erlaubnis, ins Heilige Land zu kommen.
Zudem gibt es für die frommen Studiosi eine wichtige Ausnahme zu den strengen Quarantäne-Bestimmungen, die für alle anderen gelten: Sie haben sich nach Ankunft in Tel Aviv nicht in absolute Isolation zu begeben, sondern dürfen die Zeit in Sechsergruppen verbringen.
Der neu ernannte Leiter der Corona-Taskforce, Ronni Gamzu, hält das zwar für keine gute Idee, weil es zu einem neuen Corona-Ausbruch führen könnte. Aber, sagt er in Interviews, das sei beschlossen worden, bevor er sein Amt angetreten hat.
VERTRAG Der Corona-Zar, wie er in Israel genannt wird, hat bei seinem ersten Auftritt vor einer Woche allerhand in Aussicht gestellt. Er sprach zum Beispiel von einem neuen Gesellschaftsvertrag, um das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Regierung wiederherzustellen. Das wird ihm allerdings nur gelingen, wenn er sich aus dem Hickhack der Politik heraushalten und seine Ideen durchsetzen kann. Aufgrund der Erfahrung der letzten Tage ist Skepsis angebracht.
So treten jetzt die Mängel des jahrelang sträflich vernachlässigten Gesundheitssystems krass zutage. Die Corona-Abteilungen in drei großen Krankenhäusern melden eine Auslastung von über 100 Prozent, in anderen liegen Patienten mangels Kapazitäten bereits auf den Fluren.
Es scheint, als hätte das Gesundheitsministerium die vergangenen Monate verschlafen.
Es scheint, als hätte das Gesundheitsministerium die vergangenen Monate verschlafen. So ist seit dem Ausbruch der Corona-Krise die Zahl der Betten um lediglich 19 erhöht worden, wie aus einem amtlichen Bericht hervorgeht. Die Gesundheitsausgaben pro Kopf betragen in Israel knapp 3000 US-Dollar, während es in Deutschland 6600 US-Dollar sind.
Ein weiteres zentrales Problem ist weiterhin ungelöst: die Schulen. Ab dem 1. September soll nach den langen Sommerferien wieder unterrichtet werden. Doch wenn die Klassengröße massiv reduziert werden soll, fehlen laut Angaben von Pädagogen rund 15.000 Lehrer. Auch für den Fernunterricht ist das Land schlecht gerüstet. In kinderreichen Familien mangelt es zum Beispiel an PCs, um den Kids ein gleichzeitiges Lernen zu ermöglichen.
HAUSHALT Proteste, Kliniken, Schulen: Noch ist Israels Einheitsregierung keine drei Monate alt, und schon drohen Neuwahlen. Es wären die vierten innerhalb von anderthalb Jahren. So innovativ und weltoffen Tel Aviver Hightech-Unternehmer sind, so kleinkariert gebärden sich Jerusalems Politiker.
Beim jüngsten Zoff geht es um den Finanzhaushalt. Netanjahu besteht auf einem Einjahresbudget – das allerdings bloß drei Monate in Kraft wäre –, um für 2021 ein neues Budget verabschieden zu können. Gantz hingegen pocht darauf, den Haushalt jetzt schon bis Ende 2021 festzulegen.
Die Zeit drängt. Netanjahu und Gantz haben bis zum 25. August Zeit, um sich zu einigen und im Parlament den Staatshaushalt zu verabschieden. Gelingt ihnen das nicht, werden automatisch Neuwahlen fällig, die im November stattfinden würden – Corona hin oder her.
chancen Aufgrund jüngster Meinungsumfragen kann sich Netanjahu erneut gute Chancen ausrechnen, mit seinen religiösen Partnern an der Spitze des Kabinetts zu bleiben, ohne die Macht mit Gantz teilen zu müssen. Laut Koalitionsvertrag müsste Netanjahu im Sommer 2021 das Büro des Premierministers räumen und Gantz einziehen lassen.
Der Budget-Streit, schreibt die Tageszeitung »Haaretz«, sei für Netanjahu der einzige Fluchtweg, um die vereinbarte Ablösung durch Gantz zu verhindern. Gantz befürchtet deshalb, dass Netanjahu die Budgetdiskussionen als Vorwand für Neuwahlen benutzen könnte. Was denkbar schlechte Voraussetzungen sind, um dem Erreger Sars-CoV-2 den Garaus zu machen.