Am Montag ist Ohad Munder-Sichri neun Jahre alt geworden. Für ihn und seine Familie gab es aber keinen Grund zu feiern. Im Gegenteil: Alles deutet darauf hin, dass der Junge irgendwo im Gazastreifen festgehalten wird. Am 7. Oktober, als die islamistische Terrororganisation Hamas bei ihrem Angriff mehr als 1400 Israelis ermordete, hielt sich der Viertklässler in dem nahe der Grenze gelegenen Kibbuz Nir Os auf.
Ohads Onkel kam bei dem Angriff ums Leben. Der Junge selbst wurde mutmaßlich gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Großeltern verschleppt. Was genau mit ihnen passierte, ist unklar. Es wird aber vermutet, dass die vier unter den mehr als 200 Geiseln der Terroristen sind. Hinweise darauf sind ein Mobilfunksignal, das im Gazastreifen verortet werden konnte, sowie ein später von der Hamas veröffentlichtes Video.
Die Ungewissheit ist für den Vater besonders quälend. »Ich stelle mir die ganze Zeit vor, was er durchmacht. Er ist ein sensibler Junge. Hat er Leichen gesehen? Er trägt eine Brille. Haben sie ihm die weggenommen? Kann er überhaupt etwas sehen?«, sagt Avi Sichri vor seinem Haus in der im Großraum Tel Aviv gelegenen Stadt Kfar Saba.
»In Gedanken gehe ich alle möglichen Szenarien durch und hoffe auf das am wenigsten katastrophale. Ich hoffe so sehr, dass er in Sicherheit und bei seiner Mutter ist.«
Mehr als zwei Wochen lebt der Vater nun schon in diesem Albtraum. Die furchtbaren Vorstellungen würden ihn nie loslassen, außer wenn er abends Schlaftabletten nehme, die seine Gedanken für die Nacht ausschalteten, sagt der sichtlich verzweifelte 69-Jährige. »Und dann wache ich morgens auf und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich im Schlaf nicht an sie gedacht habe.«
Ohad war mit seiner Mutter im Kibbuz der Großeltern zu Besuch, als die Terroristen kamen. Der Junge ist das einzige Kind von Sichri und Keren Munder, einer 54-jährigen Sonderschullehrerin. Er ist zudem der einzige Enkel von Avraham und Ruti Munder, beide 78 Jahre alt. Ohad hatte es immer geliebt, die Großeltern in Nir Os zu besuchen. Schätzungen zufolge wurden nun etwa 80 Menschen von dort entführt – fast ein Viertel der Bevölkerung der Siedlung.
In seinem Kinderzimmer in Kfar Saba stehen Lego-Bausätze und Fan-Artikel des englischen Fußballvereins Liverpool FC, an den Wänden hängen einige Familien-Fotos. In seiner Freizeit spielte Ohad selbst gerne Fußball, aber auch Tennis und Schach. »Er ist unglaublich clever und charmant und sprachlich weit entwickelt. Er bringt mir laufend Dinge bei, sodass ich manchmal vergesse, dass er erst neun Jahre alt ist«, sagt der Vater.
Der Geburtstag am Montag war eine Gelegenheit, auf das Schicksal des Jungen aufmerksam zu machen. Die Familie erhält in diesen Tagen viel Beistand, in der Heimat ebenso wie international. Der israelische Botschafter in den USA, Michael Herzog, rief über soziale Medien dazu auf, Ohad virtuelle Glückwunschkarten zu schicken.
Spieler seiner Lieblingsfußballmannschaft in Israel und andere prominente Sportler des Landes gratulierten und äußerten ihre Hoffnung, dass er bald sicher zurückkehren werde. In Kfar Saba wurden unter anderem gelbe Luftballons mit Botschaften zum Geburtstag von Ohad verteilt. Auch in lokalen Medien wurde viel über ihn berichtet.
Für den Vater war es trotzdem nur ein weiterer Tag in einer Reihe von qualvollen Tagen. »Ich wünschte, ich könnte heute mit ihm feiern«, sagte Sichri am Montag. »Aber es fühlt sich nicht anders an als sonst.« Vom Moment des Aufwachens an mache er sich ständig Sorgen. »Und mit jedem Tag wird es schlimmer.«
Eigentlich wollten Ohad und seine Mutter noch am 7. Oktober nach Kfar Saba zurückfahren. Als Sichri an dem Morgen dann die Sirenen hörte, griff er instinktiv nach seinem Handy, um Munder anzurufen, weil er ja wusste, dass sie viel eher innerhalb der Reichweite von möglichen Raketen war. Um 7.24 Uhr schrieb sie ihm eine Nachricht: »Hier wird ununterbrochen geschossen und es wird befürchtet, dass Terroristen in die Dörfer eingedrungen sind.«
Sie ließ ihn noch wissen, dass sich die Familie in einen Schutzraum zurückgezogen und die Tür verschlossen habe. »Hoffen wir, dass dies schnell zu Ende geht und niemand zu Schaden kommt«, schrieb Munder um 7.39 Uhr. »Pass auf dich auf und befolge die Anweisungen des Heimatfront-Kommandos.« Das war die letzte Nachricht, die Sichri erreichte. Er sagt, es sei typisch für seine Partnerin, sich »mehr um andere als um sich selbst« zu sorgen.
Nun schaudere er jedes Mal, wenn er von israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen höre, sagt der 69-Jährige. Denn er frage sich stets, ob auch seine Liebsten dabei in Mitleidenschaft geraten könnten. Dass er das qualvolle Warten überhaupt ertrage, sei einigen engen Freunden zu verdanken, die ihm zur Seite stünden.
Er wünsche sich so sehr, Ohad und Munder bald wieder in die Arme nehmen zu können. Aber »ich kann nur hoffen«, sagt er. »Es gibt nichts anderes, was ich tun kann.«