Die Standing Ovations dauern noch an, da stürzen Jung und Alt vor die Bühne, wo die soeben abgereiste Außenministerin Annalena Baerbock bereits vergessen scheint. Alle wollen ein Stück von Arye Shalicar, dem deutsch-israelischen IDF-Sprecher, der gerade in Uniform da oben stand und sein Land mit Worten verteidigt hat.
»Am Israel Chai«, sagt ein kleiner Junge mit Zizit und will ein Foto, ältere Männer präferieren männliches Schulterklopfen, und ältere Damen schwärmen, als wäre er Tom Cruise. Shalicar ist seit 70 Tagen rund um die Uhr im Einsatz, um der Welt zu erklären: »Alles ist anders seit dem 7. Oktober, denn wir kämpfen vor unserer Haustür für unsere Familien.«
Herr Shalicar, wie häufig fangen Sie in Interviews Sätze mit »nochmal« an, weil Sie das Gleiche immer wieder erklären müssen?
Das ist so nervig! Du versuchst, den Menschen etwas zu erklären. Sie tun so, als würden sie dir zuhören. Und dann machen sie da weiter, wo sie vorher waren. Ich hasse es, wenn Ursache und Wirkung, Täter und Opfer verdreht werden.
Was hat Sie an Baerbocks Ansprache am meisten gestört?
Als sie von der Bühne zurückkam, habe ich ihr ins Ohr geflüstert: »Ich fühle, dass Sie ein großes Herz haben, aber wir sind nicht einer Meinung.« Gerade in so einer Situation, nach dem 7. Oktober, muss Deutschland von allen Staaten auf der Welt ganz klar ohne Wenn und Aber hinter Israel stehen. Und wenn es irgendwelche Länder in der Welt gibt, die das nicht akzeptieren, dann müsste Deutschland sagen: Fuck them! Und wenn die Außenministerin sagt: »Heute sind wir alle Israelis«, dann sollten dem auch Taten folgen, dann enthält man sich nicht in der UN. Was heißt überhaupt »heute«? Ist das nur ein Tag oder so lange, wie diese Situation anhält …?
Hat Sie auch Gutes gesagt?
Sie versteht, dass die Hamas das Problem ist. Aber sie wünscht sich, dass das palästinensische Leid genauso wie das israelische ein Ende nimmt. Deshalb soll ein Waffenstillstand her. Auf dem Weg dorthin ist die Frage, ob der ohne Freilassung der Geiseln und ohne, dass die Hamas sich ergibt, ratsam ist. Ich sage Nein. Sie sagt eventuell Ja. Aber ich bin nur Arye. Sie ist die Außenministerin.
Nach dem 7. Oktober haben Sie gesagt: »Ich habe mich mein ganzes Leben auf diesen Moment vorbereitet«, als Sie als Reservist in Ihre Uniform und den Job des Armeesprechers zurückgekehrt sind. Dieser Moment wird zunehmend länger. Wie geht es Ihnen?
Ich bin bereit, in dieser Uniform schlafen zu gehen, ich bin bereit, in ihr zu duschen. Solange Israel in Gefahr ist, solange Menschen als Geiseln gehalten werden und solange wir Feinden gegenüberstehen, die alles daransetzen, uns zu ermorden, werde ich nicht ruhen.
Die Täter-Opfer-Umkehr, von der wir eben sprachen, diese Doppelmoral, haben Sie nach all den Jahren eine Antwort gefunden, was da los ist?
Wenn Israel sich wehrt, wird gezählt, wie viele Zivilisten gestorben sind. Und die Zahlen kommen von den Terroristen selbst, die ja die Ursache für das Sterben sind. Als die Welt – die Kurden, die Amerikaner, die Franzosen, die Irakis – gegen den IS gekämpft hat, wurden da zivile Opfer gezählt? Ich kann mich nicht daran erinnern. Diese Doppelmoral hat in sehr vielen Fällen mit einer vorgefertigten Meinung zu tun, damit, dass Menschen mit Juden und Israel ein grundsätzliches Problem haben.
Wie kann man ignorieren, dass Menschen vergewaltigt, abgeschlachtet und bei lebendigem Leibe verbrannt wurden? Die Täter haben es selbst gefilmt.
Weil es sie nicht juckt. Oder sie sagen, das stimmt alles nicht. Selbst die, die wissen, was die Hamas am 7. Oktober getan hat, sind längst weg von der Ursache und bei der Wirkung. Unrecht darf nicht mit Unrecht vergolten werden, heißt es dann. Doch Israel setzt sich zur Wehr. Es will seine Geiseln zurückholen, tut das auch nach Völkerrecht, mit humanitären Korridoren und »safe zones«, mit Warnungen, was keine andere Armee der Welt je so krass gemacht hat. Trotzdem werden wir kritisiert. Selbst wenn wir auf der Gegenseite 10.000 Terroristen treffen würden und fünf Zivilisten, würde man uns diese fünf Zivilisten vorhalten. Ich übertreibe nicht. Es ist absolut krank, und ich spiele dieses Scheiß-Spiel nicht mehr mit. Ich bin ein wehrhafter Jude. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich mich wehre. Ich bin stolz auf das Land und auf das Militär. Wir werden nie wieder in die Knie gehen.
Aber wo war das Militär am Morgen des 7. Oktober?
Der Feind wurde unterschätzt. Es gab diese IDF-Einheit junger Frauen, die gewarnt hat, dass da etwas vor sich geht. Aber die Vorgesetzten haben es heruntergespielt. Sie haben es falsch analysiert.
Die beste Armee der Welt?
Wer sagt das? Wer sagt, dass wir besser sind als die Amerikaner oder die Russen? Wir müssen einfach nur gut genug sein, um uns jederzeit zur Wehr setzen zu können. Das war’s.
Obwohl es heißt, Israel habe Gaza »in die Steinzeit zurückgebombt«, werden täglich Raketen auf Israel gefeuert. Wie geht das zusammen?
Gute Frage. Weil wir sie eben nicht in die Steinzeit gebombt haben. Weil wir langsam sind und besonnen vorgehen, weil wir versuchen, so präzise wie möglich zu sein. Um zu verhindern, dass wir weder massenhaft Zivilisten noch die Geiseln, noch unsere Soldaten, die dort kämpfen, treffen. Und das ist der Preis, wir werden weiterhin beschossen. Und noch immer sind Geiseln dort. Jeder Tag, der vergeht, ist die Hölle. Seit dem 7. Oktober befinden wir uns in einer »Lose-lose-Situation«.
Und was kommt danach?
Wir müssen das Beste aus dem »Lose« machen. So viele Geiseln wie möglich herausbekommen, am besten alle. Und natürlich die Hamas zerstören.
Kann man eine Idee zerstören?
Im Englischen sagt man »dismantle«, also die Terrorinfrastruktur zerstören und die Anführer. Wichtig ist vor allem, dass die Hamas nach diesem Krieg nicht mehr im Gazastreifen regieren wird.
Was raten Sie den Juden in der Diaspora?
Wir müssen uns als Juden nicht nur in Israel, sondern überall auf der Welt wehren und Stärke demonstrieren. Denn wenn man nicht Entschlossenheit und Selbstachtung zeigt, dann läuft man mit Angst durch die Straßen. Dann schickt man die Kinder mit Angst zur Schule. Das darf nicht passieren.
Haben die Menschen ein Problem mit selbstbewussten Juden?
Sie erwarten, dass wir Opfer sind. Es ist einfach, für tote Juden einen Kranz niederzulegen. Ich habe da keinen Bock drauf. Ich will als wehrhafter, stolzer, lebendiger Jude Unterstützung bekommen. Und nicht nur, weil meine Vorfahren ermordet wurden.
Von 2009 bis 2016 war Arye Sharuz Shalicar internationaler Sprecher der israelischen Armee. Als Reservist arbeitete er im Büro des Premiers. Mit dem Major sprach Sophie Albers Ben Chamo.