Der anhaltende Schrei von Rachel Goldberg-Polin geht durch Mark und Bein. »Hersh, hier spricht Mama«, verhallt es in der staubigen Wüstenluft.
In Nirim, am Zaun zur Sicherheitszone rund zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt, haben sich Angehörige der nach Gaza verschleppten Geiseln versammelt, um ihre Hoffnung, ihren Schmerz und ihre Wut herauszuschreien. »Wir sind hier - so nah, wie wir unseren Kindern, Eltern, Großeltern, Partnern und Freunden kommen können. Wir schreien unsere Botschaften der Liebe und Ermutigung in die Lautsprecher; in der Hoffnung, dass sie uns hören können«, sagt Goldberg-Polin.
328 Tage sind vergangen, seit die Hamas am 7. Oktober 2023 den Süden Israels überfiel, 1.200 Menschen tötete und rund 250 in den Gazastreifen entführte. 107 von ihnen sind immer noch dort, wenige Kilometer von den Lautsprechern und den verzweifelten Angehörigen entfernt. »328 Tage, in denen wir keinerlei Kommunikation mit unseren Liebsten haben. Wir sind hier, weil wir keine andere Wahl haben, aus purer Verzweiflung«, betont Goldberg-Polin.
328 Tage
Als die Angehörigen einer nach dem anderen das Mikrofon ergreifen, schweigt das schwere Gerät, mit dem Arbeiter des Kibbuz begonnen haben, die physischen Schäden des 7. Oktober wegzubaggern. 328 Tage Ungewissheit und Verzweiflung sind lauter als die entfernten Explosionen israelischer Angriffe auf Ziele in Gaza.
»Möge Gott sein Antlitz über euch erstrahlen lassen und euch gnädig sein«, spricht Rachel Goldberg-Polin den jüdischen Priestersegen über ihren Sohn Hersh und seine Mitgeiseln. »Schma Israel« - höre, Israel, schließt Geisel-Großmutter Varda Ben Baruch das wichtigste jüdische Gebet an.
Neben Gebeten sind es Kampfansagen und Durchhalteparolen, die die Angehörigen sich, den Medien und dem Wüstenwind anvertrauen: »Wir werden nicht ruhen, bis ihr wieder zu Hause seid«, »Wir kämpfen weiter«, »Seid stark und haltet noch ein bisschen durch, wir sind es auch für euch«. Immer wieder bitten sie um Vergebung - dafür, dass es ihnen bis jetzt nicht gelungen sei, die Lieben heimzuholen. »Wir fühlen uns schuldig«, sagt Hadas Calderon, deren Ex-Mann Ofer weiterhin in Gaza ist. Schuldig, wenn wir essen, schuldig, wenn wir trinken, weil ihr es nicht könnt.«
Hoffen auf die Freilassung
»Bis an jeden Ort der Welt« werde er laufen, bis es ein Geiselabkommen gibt, verspricht Jehuda Cohen seinem entführten Sohn Nimrod, und nennt den eigentlichen Adressaten seiner flehenden Klagen: die israelische Regierung unter Benjamin »Bibi« Netanjahu, die den Gazagürtel nicht nur am 7. Oktober im Stich gelassen habe, sondern seither immer wieder; mit jedem Tag, der ohne Einigung über die Freilassung der Geiseln verstreiche.
»Bibi, vergiss unsere Werte nicht«, fleht Yarden Gonen, Schwester der Entführten Romi. »Ohne sie sind wir nichts und haben wir keine Zukunft.« Dann wendet sie sich auf Arabisch an die Hamas-Terroristen: »Halas, genug! Das ist nicht der Islam. Schämt Euch und lasst unsere Geiseln frei!«
Angehörige überschreiten die Grenze
Ein Zug entlang des Grenzgebiets soll den Abschluss der Aktion bilden. Die Menge setzt sich in Bewegung. Dann wird der Schritt bestimmter. Als die ersten zu laufen anfangen, ist kein Halten mehr. Der Zug strömt durch das offene Tor im Sicherheitszaun, auf die Grenze Gazas zu. Die Armee, vielleicht überrascht, sich aber wohl auch der Wirkung möglicher Bilder der Gewalt gegen Geiselangehörige bewusst, lässt den Familien einige hundert Meter Vorsprung. Dann schickt sie ihre Einsatzfahrzeuge hinterher, um die Menge zur Umkehr zu bewegen.
Unter Applaus kehren die Angehörigen zurück hinter den Zaun, ein Applaus, den manche von ihnen zurückweisen. »Wir haben die Geiseln nicht mitgebracht«, sagen sie. Der Durchbruch in das Sperrgebiet sei auch eine Drohung gewesen: »Fürs Erste haben wir uns aufhalten lassen. Wenn die Regierung es nicht schafft, unsere Geiseln nach Hause zu bringen, gehen wir selbst rein und retten sie mit unseren eigenen Händen.«