Als Benjamin Netanjahu nach ewig langen Krisensitzungen die Verschiebung seiner Justizreform ankündigt, steht ihm die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Mit tiefen Ringen unter den Augen und bedachter Stimme wendet er sich zur besten Sendezeit im Fernsehen an die »Bürger von Israel«. »Wenn es eine Chance gibt, einen Bürgerkrieg durch Dialog zu verhindern, werde ich - als Ministerpräsident - eine Auszeit für den Dialog nehmen«, kündigt der 73-Jährige an. Also doch.
Das höchst umstrittene Gesetzesvorhaben, das er mit seiner neuen rechtsreligiösen Regierung so sehr vorangetrieben hat, lässt er nun zumindest mehrere Wochen pausieren. Er sei nicht bereit, die Nation in zwei Hälften zu spalten, sagt Netanjahu, der alles in allem in Israel so lange an der Spitze der Regierung stand wie noch nie jemand zuvor.
Politisches Überleben Der geplante Umbau der Justiz hat das Land aber auch in eine kaum vergleichbare innenpolitische Krise gestürzt. Auf der einen Seite gibt es massiven Widerstand in weiten Teilen der Gesellschaft. Auf der anderen Seite stehen seine rechten Koalitionspartner - ohne die bei aller Erfahrung sein politisches Überleben nicht gesichert ist.
Unter den Kritikern finden sich auch vermehrt Wähler von Netanjahus rechtskonservativer Likud-Partei. Dass ihm diese nicht gewiss sind, zeigen neueste Umfragen. Wären jetzt Wahlen, verlöre der Likud im Parlament sieben Sitze. Damit hätte die Koalition keine Mehrheit mehr.
Und auch persönlich verliert er an Vertrauen. Erstmals seit der Wahl sind mehr Menschen für den früheren Verteidigungsminister Benny Gantz von der Opposition als Regierungschef. Netanjahu geht es jedoch um viel mehr als ums politische Überleben. Seit Jahren läuft gegen ihn ein Korruptionsprozess. Die geplanten Gesetzesänderungen könnten ihm in die Hände spielen.
Kompromiss Der vorübergehende Stopp der Reform verschafft Netanjahu Zeit. Seine Koalitionspartner machten jedoch bereits deutlich: Sollte bis Ende der Sommersitzung kein Kompromiss mit der Opposition gefunden werden, gibt es keinen Halt mehr. Das habe Netanjahu ihm persönlich versprochen, berichtete Polizeiminister Itamar Ben-Gvir.
Der rechtsextreme Politiker gilt als einer der Gewinner der Verschiebung. Er drohte Netanjahu mit seinem Rücktritt, sollte dieser von den Plänen abweichen. Daraufhin versprach ihm »Bibi« - so Netanjahus Spitzname - kurzerhand eine eigene »Nationalgarde«. Befürchtet wird, dass eine solche bewaffnete Privatarmee« härter gegen Demonstranten oder Palästinenser im Westjordanland vorgeht.
»Sollte dies wirklich umgesetzt werden, wäre das ein Desaster«, sagt der Politikwissenschaftler Gideon Rahat. Zuständigkeiten zwischen Polizei, Militär und neuen Einsatzkräften könnten verschwimmen. »In einem Staat darf es beim Thema Sicherheit nur eine Autorität geben.« Aktuell ist das das Verteidigungsministerium. Rahat bezweifelt jedoch, dass Netanjahu sein Versprechen halten wird. Ähnliche Zusagen seien früher schon gemacht, aber nicht eingehalten worden.
Gesetzesentwurf Ob ein Kompromiss zwischen der Regierung und den Gegnern der Reform gefunden wird, bleibt ungewiss. Trotz der Ankündigung Netanjahus brachte die Koalition am Dienstag einen Gesetzesentwurf zur Änderung der Zusammensetzung von Richtern im Parlament ein. Oppositionspolitiker sprachen von »einer Waffe am Kopf« während möglichen Verhandlungen.
An diesen hängt auch, ob die Proteste weitergehen. »Die Infrastruktur steht bereit, um jederzeit den Protest wieder auszurollen«, sagt Rahat. Dabei gehe es den Demonstranten um viel mehr als die Reform. Was sich jahrelang aufgestaut habe, komme nun zum Vorschein. »Jeder hat eine eigene Agenda. Was sie eint, ist der Kampf für die Demokratie.« Gleichwohl warnt der Politologe: »Wenn die Pläne ohne Änderung durchgesetzt werden, ist es das Ende der Demokratie in Israel. Und der mögliche Beginn einer Diktatur«.
Sollten die Versuche scheitern, könnte dies auch die Beziehungen zu den USA gefährden. Vor seiner Rede am Montag unterrichte Netanjahu zunächst das Weiße Haus über seine Pläne. »Das zeigt, welche riesige Rolle die USA in der Sache spielen«, sagt der frühere Netanjahu-Berater Aviv Buschinsky. Netanjahu gab als Hauptziel seiner Amtszeit aus, zu verhindern, dass der Iran an Atomwaffen gelangt. Zudem will er mit weiteren arabischen Staaten die Beziehungen normalisieren. Für beides braucht er die Unterstützung der USA.
Dass die US-Regierung - traditionell der engste Partner Israels - nicht glücklich mit der Politik seiner neuen Regierung ist, zeigt sich auch daran, dass Netanjahu seit der Rückkehr an die Macht immer noch nicht zum Antrittsbesuch im Weißen Haus war. »Für Netanjahu eine Blamage«, sagt sein früherer Berater. Der US-Botschafter in Israel, Thomas Nides deutete nach Netanjahus TV-Ansprache an, dass ein Besuch bald bevorstehen könnte. Präsident Biden kassierte die Aussage wieder ein, indem er sagte, Netanjahu werde in nächster Zeit nicht eingeladen.