Angst haben oder trotzig dem Terrorismus ins Gesicht lachen? Die Tel Aviver sind dieser Tage zwiegespalten. »Ich mache weiter wie bisher«, versichert Merav Cohen, als sie am Dienstag mit ihrem Hund Krembo über den Rothschild-Boulevard spaziert. »Und habe trotzdem ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.« So geht es vielen Städtern nach dem tödlichen Anschlag vom Freitag, bei dem ein arabischer Israeli drei Menschen erschoss, zehn weitere verletzte und entkam.
Am Wochenende nahm das Wetter den Menschen die Entscheidung ab. Es goss wie aus Kübeln, und die meisten machten es sich in ihren eigenen vier Wänden unter dicken Decken gemütlich. Auf den Straßen war kaum jemand zu sehen. Cohen machte mit. Doch am Sonntag zog es sie wieder nach draußen. Und zwar ganz bewusst, wie sie sagt. »Das ist keine banale Sache. Es geht schließlich darum, ob man sich verkriecht und dem Terror nachgibt oder ob man ihm klar und deutlich den Mittelfinger zeigt. Ich habe mich entschieden, Letzteres zu tun. Denn ich liebe meine Stadt und werde nicht akzeptieren, dass Terroristen oder andere Verrückte sie kaputt machen.«
Flucht Leicht findet die junge Frau das aber nicht. Schließlich entkam der mutmaßliche Täter Nashat Melhem nach Angaben der Polizei samt halbautomatischer Waffe und jeder Menge Munition. Die Polizei sucht seit Tagen fieberhaft nach dem Mann, hatte bis Mittwoch jedoch keinerlei heiße Spur. Er konnte also überall sein. Mitten in Tel Aviv, um vielleicht sogar den nächsten Anschlag zu planen, oder schon lange geflüchtet, manche vermuteten in Richtung Westjordanland.
Am 1. Januar gegen 15 Uhr hatte der 29-Jährige aus dem arabischen Dorf Arara mitten auf der belebten Dizengoff-Straße im Tel Aviver Zentrum plötzlich eine Waffe aus seinem Rucksack gezogen. Dann begann er, auf Passanten zu feuern. In der Simta-Bar erschoss er Alon Bakal (26) und Schimon Ruimi (30). Melhem entkam unversehrt.
Wie die Polizei mittlerweile rekonstruierte, flüchtete er zunächst zu Fuß und hielt in einer der Nebenstraßen ein Taxi an. Dem Fahrer Amin Schaban wurde das zum Verhängnis. Man fand den beduinischen Vater von elf Kindern eine Stunde nach den ersten Morden tot am Strand im Norden von Tel Aviv.
angeschlagen Seitdem wirkt die Stadt, die für ihre Partylaune berühmt ist, trüber und bedächtiger als sonst. Auf der Dizengoff-Straße, wo der Anschlag geschah, scheinen am Wochenanfang wesentlich weniger Menschen unterwegs zu sein als gewöhnlich. Vor der Simta-Bar brennen noch immer die Gedächtniskerzen, Menschen halten inne und trauern. In den Straßencafés ist wenig Betrieb. Es mag an der Sorge liegen, dass der Mörder noch irgendwo in der Stadt lauern könnte oder daran, dass es ungewöhnlich kalt ist. Restaurants und Cafés in der Stadt, vor allem im Norden, wo Melhem als Gemüselieferant arbeitete, verzeichnen Umsatzeinbußen bis zu 60 Prozent.
»Ich weiß nicht, ob die Leute wirklich Angst haben, aber sie gehen definitiv weniger aus«, hat der junge Mann beobachtet, der im Aroma-Café an der Ibn-Gabirol-Straße hinter der Theke arbeitet. »Die Stimmung in der Stadt ist seit dem Beginn der Messer-Intifada irgendwie angeschlagen. Aber seit Freitag ist sie richtig mies. Man merkt, alle warten darauf, dass der Mörder geschnappt wird.«
Auch vielen Eltern sitzt die Angst im Nacken. Obwohl die Verwaltung am Wochenbeginn die Sicherheitsmaßnahmen vor allen Bildungseinrichtungen im Stadtgebiet verstärkte, ging am Sonntag lediglich die Hälfte der Tel Aviver Kinder in die Schule. Am Montag waren es schon wieder 70 Prozent. Michal Ben-Ami, alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern im Grundschulalter, hat ihre Mädchen am Dienstag zum ersten Mal wieder in die Schule gelassen. »Mit einem wirklich schlechten Gefühl. Aber was soll ich tun? Das Leben geht weiter – und die Arbeit natürlich auch.«
Verständnis Bürgermeister Ron Huldai zeigte Verständnis für die besorgten Eltern und erklärte, dass es keine Strafen oder Einträge für das Fehlen geben würde. Am Dienstag allerdings bat er darum, den Alltag wieder aufzunehmen. Auch Sicherheitsminister Gilad Erdan betonte, dass die Routine wieder Einzug halten müsse. »Schließlich kommen bei Autounfällen wesentlich mehr Menschen ums Leben als bei Terroranschlägen.«
Die Polizei gab sich nach dem Anschlag ungewöhnlich bedeckt. Tagelang wurde die Bevölkerung kaum über Details informiert, das Foto des Verdächtigen erst mehr als 24 Stunden nach der Tat veröffentlicht. Der neue Leiter der Polizei, Roni Alsheich, ist der ehemalige Vize-Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Am Dienstagmittag wandte er sich zum ersten Mal an die Tel Aviver. Doch auch da blieb er vage. Man könne die Spannung in der Stadt »drastisch reduzieren«, sagte er, wolle jedoch nicht ausführen, wie das geschehen soll, »damit die Ermittlungen nicht gefährdet werden«.
Es sind stürmische Wintertage, das richtige Wetter zum Surfen. Dutzende tummeln sich in Neopren-Anzügen im Wasser, warten auf ihren Brettern auf die perfekte Welle. Nir Weiß hüpft im Sand auf und ab. Keine Angst vor dem frei herumlaufenden Mörder? »Hier am Strand sicher nicht«, meint der 24-Jährige atemlos zwischen den Aufwärmübungen. »Aber auch sonst weigere ich mich, mein Leben dem Terrorismus anzupassen. Ich mache alles genauso wie vorher, gehe zur Uni, einkaufen, mit Freunden aus.« Dann rennt er in die Fluten, dreht sich noch einmal um und ruft: »Ganz ehrlich, wir Tel Aviver sind Schlimmeres gewöhnt. Fuck you, Terror!«