Das israelische Parlament, die Knesset, hat am Sonntagmorgen mit der Verabschiedung eines Gesetzes begonnen, das die gerichtliche Kontrolle der »Vernünftigkeit« von Kabinetts- und Ministerentscheidungen abschaffen will. Währenddessen wächst der Widerstand in der Gesellschaft.
KOTEL Einige Gruppen warnen vor einem »nahenden Bürgerkrieg«. Hunderte Befürworter und Gegner der Justizreform hielten am Morgen eine gemeinsame Zeremonie an der Kotel in Jerusalems ab, bei der sie Regierung aufforderten, einen »breiten Konsens« über Änderungen im Rechtssystem zu erzielen. Sie beteten für eine Einigung, denn sonst bestünde die Gefahr eines Bürgerkrieges.
Zu den Organisatoren des Gebets und der Kundgebung gehörten gemäßigte Rabbiner und Konservative, darunter Rabbi David Stav von der Organisation Zohar sowie Oppositionspolitiker wie der ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz. »Während wir uns Tischa Beaw nähern, befinden wir uns in einer schlimmen Lage, am Rande eines Abgrunds«, sagte Stav.
VOLKSAUFSTAND Die Versammlung war die erste Großveranstaltung dieser Art, bei der Vertreter beider Seiten der Kontroverse zusammenkamen, die die israelische Gesellschaft in den vergangenen sechs Monaten gespalten und den größten Volksaufstand in der Geschichte des Landes ausgelöst hat.
Ebenfalls in Jerusalem errichteten Tausende Demonstranten nach dem Ende des viertägigen Protestmarsches ein Zeltlager im Sacher-Park. Die israelische Ärztekammer hat zudem einen Warnstreik angekündigt. Sie werde am Montag darüber entscheiden, ob sie einen Generalstreik starten wird. Rund 2500 Ärzte sind nach Jerusalem gekommen, um gegen die Reform zu protestieren.
»Die Koalition ist mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs beschäftigt, und mit den Bemühungen, dies im Konsens zu erreichen.«
premier benjamin Netanjahu
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu veröffentlichte Sonntag ein Video auf Twitter, in dem er versprach, dass er morgen in der Knesset sein werde, um über die Aufhebung des Angemessenheit-Standards abzustimmen, nachdem bekannt wurde, dass ihm über Nacht ein Herzschrittmacher implantiert worden sei. Er sagte, die Koalition sei mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs beschäftigt, »und mit den Bemühungen, dies im Konsens zu erreichen«.
Der Likud lehnte am selben Tag einen Kompromissvorschlag der größten Gewerkschaft des Landes, Histadrut, ab. Darin wird unter anderem gefordert, die Gesetzgebung für einen Zeitraum von 18 Monaten auszusetzen. Der Histadrut-Gewerkschaftsvorsitzende Arnon Bar-David und der Vorsitzende des Präsidiums der israelischen Wirtschaftsverbände, Dubi Amitai, legten ihn Netanjahu vor.
ABLEHNUNG Der Vorschlag »ist völlig identisch mit dem von Yair Lapid«, begründete der Likud seine Ablehnung. »Es handelt sich um eine einseitige Übernahme der Position der Opposition.« Die Erklärung fügte hinzu, dass der Vorschlag den Gesetzentwurf zur Angemessenheit nutzlos mache. »Wir bemühen uns weiterhin um einen echten Kompromiss.«
Einige hochrangige Mitglieder der Koalition hatten am Sonntag jedoch ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, eine »gewisse Abschwächung« des Gesetzentwurfs zu akzeptieren. Sie befürworteten auch, die Gesetzgebung für sechs Monate einschließlich der bevorstehenden Wintersitzung der Knesset auszusetzen.
Wenn das Gesetz dennoch verabschiedet wird, würde die Koalition aus dem Likud von Netanjahu, rechtsextremen und ultraorthodoxen Parteien den ersten großen gesetzgeberischen Sieg zur Einschränkung gerichtlicher Kontrollen der Regierungsmacht erringen. Es wird erwartet, dass sie den Entwurf mit ihrer knappen Mehrheit trotz der großen politischen und gesellschaftlichen Einwände durchsetzen wird.
Der Abgeordnete Simcha Rothman von der rechtsextremen Partei Religiöser Zionismus, der den Gesetzgebungsausschuss leitet, ließ wissen, dass die Reform die Autorität an gewählte Amtsträger zurückgeben werde, indem gerichtliche Eingriffe in Verwaltungsbeschlüsse beseitigt würden.
»Die rechtsextreme Politik der Regierung hat Israel von der High-Tech-Nation in einen internationalen Aussätzigen verwandelt.«
abgeordnete orit farkash-hacohen
Während der Debatte beschwor Oppositionsführer Yair Lapid (Jesch Atid) die Koalitionsmitglieder, dass es immer noch möglich sei, einen Kompromiss zu erzielen, wenn die Koalition ihren einseitigen Vorstoß zur Einschränkung der richterlichen Macht stoppe. »Wir haben mit der Residenz des Präsidenten gesprochen. Die Türen dort stehen offen.
KATASTROPHE »Ich warte darauf, dass wir zurückkommen und reden, um eine Katastrophe zu verhindern, um den Zerfall des Landes zu verhindern. Wir wollen Sie nicht besiegen, denn dann verlieren wir alle. Die Wahrheit ist, dass jeder einen Kompromiss will, aber niemand weiß, wie man zu einem kommt oder wie dieser aussehen wird.« Der Gesetzentwurf ziele darauf ab, »uns in Polen und Ungarn zu verwandeln. Aber wir sind nicht sie. Israel wurde demokratisch geboren, und wir haben einen demokratischen Instinkt«, fasste Lapid zusammen.
Seine Parteikollegin Orit Farkash-Hacohen brach auf dem Podium in Tränen aus, als sie die sozialen Spannungen sowie die umfassenden diplomatischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Regierungsdebatte ansprach. Ihrer Meinung nach »ruiniert die Koalition das Land«.
»Unser Land brennt. Sie haben das Land zerstört, Sie haben die Gesellschaft zerstört«, beschuldigte Farkash-Hacohen und fügte hinzu: Die rechtsextreme Politik der Regierung habe Israel von »der High-Tech-Nation in einen internationalen Aussätzigen verwandelt. Ich kann nicht glauben, was ich sehe. Ich kann es nicht glauben.«