Einst war Eli Abraham Abteilungsleiter. Heute ist er Putzkraft. Und Junkie. Er ist einer von vielen Israelis, die von verschreibungspflichtigen narkotischen Schmerzmitteln abhängig sind. Mittlerweile hat der kleine Nahoststaat den traurigen Rekord des höchsten Opioid-Konsums pro Kopf weltweit erreicht. Das zeigt eine neue Studie des Taub-Zentrums für sozialpolitische Studien in Israel.
Zu den konsumierten Opioiden gehören vor allem Medikamente mit dem Wirkstoff Fentanyl, der 50-mal stärker ist als Heroin und 125-mal so potent wie Morphium. Der steckt unter anderem in den Pillen »Oxycontin«.
Die erhielt auch Abraham auf Rezept. Sachlich erzählt er von seinem Unfall mit dem Motorrad. »2015 bin ich gestürzt. Vier Nächte lang konnte ich vor Schmerzen nicht schlafen, dann fuhr ich in die Notaufnahme meiner Poliklinik. Nach einer zweiminütigen Untersuchung durch einen Arzt hatte ich ein Rezept in der Hand. Darauf ein Name, den ich noch nie gehört hatte: Oxycontin.« Abraham war beruhigt.
»Zu Hause nahm ich die erste Tablette. Die Schmerzen waren innerhalb von fünf Minuten verschwunden.« Doch das sei nicht alles gewesen, erinnert sich der achtfache Familienvater. »Plötzlich schwebte ich auf einer rosaroten Wolke umher.«
EPIDEMIE Abraham bekam das Schmerzmittel, das in den USA zu der berüchtigten Opioid-Epidemie führte, durch die jährlich schätzungsweise 80.000 Menschen sterben. Die von Nadav Davidovitch, Yannai Kranzler und Oren Miron durchgeführte Studie des Taub-Zentrums präsentiert nun besorgniserregende Daten über die Verwendung der verschreibungspflichtigen Schmerzmittel und deren zerstörerischen Einfluss in Israel: »Der Konsum nimmt vor allem bei jungen, gesunden Leuten und in Armut lebenden Menschen zu.«
Bis in die 90er-Jahre wurden die Opioide seitens der Ärzte vor allem bei der Krebsbehandlung oder nach Operationen verabreicht.
Bis in die 90er-Jahre wurden die Opioide seitens der Ärzte vor allem bei der Krebsbehandlung oder nach Operationen verabreicht. In den 2000er-Jahren jedoch wurden sie trotz Bedenken hinsichtlich ihrer Sicherheit und Wirksamkeit zunehmend bei chronischen Erkrankungen wie Rücken- oder Gelenkschmerzen verschrieben.
Jahrzehntelang war Heroin das am häufigsten konsumierte illegale Opioid. Nach Angaben der Centers for Disease Control and Prevention in den USA schien jedoch Ende der 2010er-Jahre der Konsum zurückzugehen. Stattdessen kam es zu einem dramatischen Anstieg der Todesfälle aufgrund von Überdosierung synthetischer Opioide, insbesondere Fentanyl. Im Zentrum der Krise steht die US-amerikanische Unternehmerfamilie Sackler, die über ihre einstige Privatfirma Purdue Pharma Oxycontin herstellte und vertrieb.
marketingpläne Die Saga wird in dem Buch Empire of Pain von Patrick Keefe und in Berichten investigativer Journalisten ausführlich beschrieben. Das Unternehmen hat sich bezüglich seiner Opioid-Marketingpläne 2007 und 2020 zweimal wegen Bundesverbrechen schuldig bekannt. Die Sacklers persönlich behaupten allerdings, unschuldig zu sein.
Doch Dokumente, die während der Rechtsstreitigkeiten enthüllt wurden, zeigen, dass einige Familienmitglieder aggressiv darauf drängten, den Verkauf der Opioide anzukurbeln. Und sogar als Suchtraten und Überdosierungen explodierten, beauftragten die Sacklers eine Beratungsfirma, um den Verkauf von Oxycontin zu erhöhen. Trotzdem durften sie die Milliarden Dollar behalten, die sie vor Abschluss der Insolvenz aus dem Unternehmen abgezogen hatten.
Außerdem warb Purdue Pharma damit, dass ihre Opioide nicht mehr süchtig machen würden, weil angeblich ein patentierter Mechanismus die Wirkstoffe in Intervallen abgebe. So verschrieben Mediziner auch bei relativ leichten Schmerzen und bei jungen, gesunden Menschen Oxycontin. Mit fatalen Folgen, denn es war genauso süchtig machend wie zuvor. »Sie haben die Regulatoren angelogen. Das wissen wir heute hundertprozentig. Sie haben schlicht gelogen, dass ihre Pillen nicht süchtig machen«, weiß Professor Davidovitch.
Mittlerweile haben sich die Sacklers gänzlich freigekauft. Für eine Zahlung von sechs Milliarden Dollar können sie nun nicht mehr in eventuellen Klagen von Opfern oder deren Angehörigen zur Verantwortung gezogen werden. Auch das lokale Unternehmen Teva ist in die US-amerikanische Opioid-Krise verwickelt. Es muss 4,25 Milliarden unter anderem an US-Bundesstaaten zahlen, um Tausende Klagen abzuwenden, berichtete Associated Press.
DUNKELZIFFER Israel habe das Niveau der USA noch nicht erreicht, resümiert die Taub-Studie. Allerdings könnte die Dunkelziffer der Todesfälle durch die legalen Opioide wesentlich höher sein. Denn die Zahl der durchgeführten Autopsien ist aufgrund religiöser Einschränkungen in Israel niedrig. »Dadurch ist es schwierig, die Anzeichen einer bevorstehenden Epidemie zu erkennen.« Zudem sei die tatsächliche Zahl der Konsumenten nur schwer zu ermitteln. Zum einen, weil jede Krankenkasse sie separat speichert und für sich behalte, weiß das Taub-Zentrum, zum anderen, weil der Schwarzmarktanteil extrem hoch sei.
Der Wissenschaftler Oren Miron sieht die Gefahr in Israel gar »größer als in den USA«. Denn dort würden auch mittelstarke Opioide verschrieben. »Hier in Israel aber sind es fast immer sofort die stärksten Mittel.« Das bestätigen auch Ärzte. Die meisten von ihnen wollen anonym bleiben. Doch immer mehr sagen mittlerweile, dass die extrem süchtig machenden Medikamente viel zu schnell und sorglos verschrieben werden.
Zu den negativen Nebenwirkungen des Opioidmissbrauchs zählen Schläfrigkeit, Verwirrtheit, Übelkeit, Verstopfung und schwere Atemdepression, die lebensbedrohlich sein kann. Der Konsum von Opioiden führt im Laufe der Zeit dazu, dass der Körper eine Toleranz entwickelt, sodass recht schnell ein Bedarf an höheren Dosierungen entsteht.
experten Dennoch legt der Bericht nahe, dass die Situation zwar schlimm, aber nicht unüberwindbar sei. Experten für öffentliche Gesundheit und Sucht arbeiten derzeit mit dem Gesundheitsministerium an einem Dreijahresplan, der Empfehlung des Berichts für ein nationales Programm folgend. Zudem könne Israel mit seinen vollständig digitalisierten Patientenakten im Vergleich zu anderen Ländern einen Vorteil bei der Bewältigung des Problems haben.
Der Wirkstoff Fentanyl ist 50-mal so stark wie Heroin.
Die Forscher empfehlen des Weiteren eine Reihe von Schutzmaßnahmen, die getroffen werden könnten: die Verschreibung von Opioiden besser zu überwachen und die Daten zu veröffentlichen; bei Verdacht auf Überdosierung Obduktionen durchzuführen; Verfahren für die sichere Verschreibung von Opioiden zu entwickeln, einschließlich geeigneter Alternativen; Patienten und ihre Familien über die Gefahren aufzuklären; bereits von Sucht verursachte Traumata und Instabilitäten unterstützend zu behandeln; den Zugang zu Hilfe bei Suchterkrankungen zu verbessern.
»Es ist absolut wichtig, auf nationaler Ebene ein Programm zu entwickeln, das diese Schritte sowie ein stärkeres öffentliches Bewusstsein für die Risiken von Opioid-Missbrauch formuliert«, verdeutlicht Professor Davidovitch, der auch Leiter der Medizinfakultät an der Ben-Gurion-Universität ist. Nur so könne man die zerstörerischen Auswirkungen wirksam begrenzen.
FALL Eli Abrahams Fall von der rosafarbenen Wolke war hart: »Meine Frau sagte: ›Ich mache das nicht mehr mit‹ und verlangte die Scheidung. Bei der Arbeit ließen sie mich wissen, dass sie mich zwar mögen, aber meine Leistung einfach nicht mehr da sei«, berichtete der ehemalige Leiter der Aufnahme im Assaf-Harofeh-Krankenhaus südlich von Tel Aviv gegenüber dem Sender Kan. Heute arbeitet er für eine Reinigungsfirma im Norden. »Ich bin wütend auf den Arzt, der mir diese Tabletten verschrieben hat – gänzlich ohne Warnung oder Aufklärung.«
Mittlerweile hat er Klage eingereicht, unter anderem gegen das israelische Gesundheitsministerium, seine Krankenversicherung und den Vertreiber von Oxycontin in Israel. »Wegen des unermesslichen Schadens, den sie in meinem Leben angerichtet haben.«