Ein Mann verschwindet unter einem falschen Namen hinter Gittern. Er wird verurteilt, ohne dass irgendjemand weiß, wessen er sich schuldig gemacht hat. Er begeht Selbstmord in einer kameraüberwachten Zelle, seine Leiche wird heimlich nach Australien überführt und dort beigesetzt. Die genauen Umstände seines Todes soll jetzt ein Knesset-Komitee untersuchen.
Die Frage, was mit dem aus Australien stammenden mutmaßlichen Mossad-Agenten Ben Zygier in Israel geschehen ist und warum, beschäftigt das Land seit Tagen. Neben dem verständlichen Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Erklärungen ist auch eine lebhafte Debatte um zwei zentrale Fragen entstanden: Wie sehr darf ein Staat Bürgerrechte aus Sicherheitsgründen beschneiden und Zensur ausüben, ohne dass er sich mit Diktaturen vergleichen lassen muss, wie der ehemalige Knesset-Abgeordnete Jossi Beilin am vergangenen Sonntag in einer Fernsehdiskussion fragte. Und: Wie viel Sinn hat eine Nachrichtensperre im Zeitalter des Internets?
Der Fall des »Gefangenen X« war vor knapp zwei Wochen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Der australische Fernsehsender ABC brachte eine Reportage über den 34-Jährigen, der im Dezember 2010 Selbstmord begangen hatte und als mutmaßlicher Mossad-Agent gilt. Schnell kursierte die Geschichte im Internet. Aus »Gründen der Staatssicherheit« hatte die israelische Regierung zwar noch versucht, eine absolute Nachrichtensperre zu verhängen – aber ohne großen Erfolg.
Dank der Möglichkeit, die ausländische Presse als Quelle zu zitieren, berichteten nach anfänglichem Zögern auch die israelischen Medien über die Affäre. Und Parlamentarier wie etwa die Vorsitzende der linken Meretz-Partei, Zehava Gal-On, hatten im Parlament und vor laufender Kamera über den Fall diskutiert und die Nachrichtensperre umgangen, indem sie sich auf ihre Immunität beriefen. Nun drohen ihnen rechtsgerichtete Politiker mit einer Klage.
Sicherheit Diskutiert wird auch innerhalb der Medien. So wirft die Zeitung Haaretz dem Mossad vor, »noch immer in früheren Jahrhunderten« zu leben, als es noch kein Internet gab. Zensur, Rechtsprechung und Sicherheitskräfte sollten »eine freie Presse in einem demokratischen Staat akzeptieren«. Die Tageszeitung Yedioth Ahronoth dagegen toleriert Nachrichtensperren, wenn es um die Sicherheit des Staates geht.
Über den Fall des »Gefangenen X« selbst sind nach wie vor wenige Fakten bekannt. Demnach soll der aus Melbourne stammende Ben Zygier vor zehn Jahren nach Israel ausgewandert sein. Er war mit einer Israelin verheiratet, hatte zwei Kinder und lebte in der Nähe von Tel Aviv. Der studierte Jurist änderte seinen Namen in Ben Alon, bewarb sich bei einer Kampfeinheit und leistete Dienste in einem Kibbuz.
Als sicher gilt inzwischen, dass ihn der israelische Geheimdienst Mossad anheuerte. Jedoch ist unklar, welche Aufgaben Zygier erfüllte. Mal heißt es, der Mossad solle lediglich seine insgesamt vier australischen Pässe mit jeweils verschiedenen Namen genutzt haben, um andere Personen damit ins Ausland zu schicken. Andererseits zitierte ABC am Montag jedoch Quellen, wonach Zygier dem australischen Geheimdienst ASIO detaillierte Informationen über Operationen des Mossad gegeben haben soll – darunter eine besonders brisante in Italien, die seit Jahren vorbereitet worden sei.
Dies könnte der Grund für seine Inhaftierung Anfang 2010 gewesen sein, wie ABC weiter spekuliert. Der damals 34-Jährige wurde ins Ayalon-Gefängnis bei Ramle gebracht und hielt sich dort – anonym, völlig isoliert und überwacht von einer Kamera – in Zelle Nummer 15 auf. Diese war 1995 eigens für den Mörder von Ministerpräsident Yitzhak Rabin gebaut worden. Wie es heißt, wusste nicht einmal das Aufsichtspersonal, wer der Mann in Zelle 15 war. In der Fernsehreportage des ABC wurde nachgestellt, wie ein Wachmann den Journalisten Trevor Borman angerufen und ihm vom Fall des »Gefangenen X« berichtet hat. Zygier selbst habe bestritten, ein Mossad-Agent zu sein, so Borman. Am 15. Dezember 2010 fand man den zweifachen Vater tot im Duschbereich seiner Zelle.
Ausschuss Das alles wirft Fragen auf, die nun von einem für den Geheimdienst zuständigen Ausschuss der Knesset geprüft werden sollen, wie das Parlament am Sonntag beschloss. Wie viel davon allerdings an die Öffentlichkeit gelangt, muss abgewartet werden. So hat sich am vergangenen Sonntag Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erstmals indirekt zu dem Fall geäußert. Er warnte davor, dass zu viel Offenheit in der Untersuchung der Affäre die Sicherheit Israels gefährden könne. Man dürfe nicht vergessen, dass Israel besonders bedroht sei.
Inzwischen hat die Familie von Ben Zygier in Australien ihr Schweigen gebrochen. Sie hoffe, Antworten zum Selbstmord zu bekommen, hieß es. Über die Inhaftierung Zygiers unter einem falschen Namen sollen seine Angehörigen jedoch Bescheid gewusst haben, hatte Vizeregierungschef Mosche Jaalon jüngst unterstrichen. Außerdem hatte Zygier mehrere Anwälte, darunter den bekannten Menschenrechtsanwalt Avigdor Feldman, der sich gegenüber der Presse jedoch nicht mehr zu dem Fall äußern möchte.
Zu Wort gemeldet hat sich auch das Executive Council of Australian Jewry (ECAJ). »Wir begrüßen, dass Israel den Umständen des Todes von Ben Zygier nun auf den Grund gehen will«, gab Danny Lamm, Präsident des ECAJ, in einer Pressemitteilung bekannt. Gleiches gelte für die australische Regierung. Außenminister Bob Carr hatte am Sonntag angekündigt, man werde den Fall untersuchen.