Die Regale sind prall gefüllt. Knackige Äpfel, Dutzende Varianten Honig, purpurfarbene Granatäpfel, Honigkuchen, Rinderfilets und frischer Fisch. Alles da für den Familienschmaus an Erew Rosch Haschana. Über mangelnde Auswahl können sich die Israelis nicht beklagen. Dafür aber über die exorbitanten Preise für die Produkte, die in ihren Einkaufskorb wandern.
Damit das kommende Jahr auch ein süßes wird, muss man beim Fest Apfel in Honig reichen. Das ist allerdings nicht nur ein köstlicher, sondern auch ein teurer Spaß: Ein Kilo Äpfel der Sorte Pink Lady kostet derzeit in Israel umgerechnet knapp sechs, in Deutschland unter zwei Euro. Für 500 Gramm Honig zahlt man 7,50 Euro, zweieinhalb Mal so viel wie für die gleiche Menge Honig in deutschen Regalen. Die Flasche Wein ist kaum unter zehn Euro zu bekommen.
Rund 313.000 Familien leiden unter »extremer« Ernährungsunsicherheit.
Rosch Haschana und Sukkot sind Feste, an denen israelische Großfamilien traditionell gemeinsam feiern, Freunde in ihre Laubhütten einladen und bewirten. Vorher geht es zu Großeinkäufen in die Supermärkte. Doch immer mehr Menschen werden von dem, was sie dort bezahlen müssen, regelrecht erdrückt. »Ich fühle manchmal wirklich, dass mir der Atem wegbleibt, wenn die Zahl in der Supermarktkasse erscheint«, gibt Abigail Shainman zu, die vor 20 Jahren aus Argentinien nach Israel einwanderte und heute in Raanana lebt, einer Kleinstadt nördlich von Tel Aviv. »Doch was bleibt uns anderes übrig? Essen und trinken müssen wir.«
Shainman erzählt, dass sie kürzlich Bekannte in Deutschland besuchte. »Es war meine erste Reise, und ich konnte es kaum glauben. Obwohl meine Freunde sagten, alles sei teurer geworden, ist es im Vergleich zu Israel immer noch unfassbar billig. Natürlich kann man auch dort viel Geld ausgeben, doch die Möglichkeit, bei Discountern wie Aldi oder Lidl den Einkaufswagen vollzupacken und trotzdem nicht arm zu werden, ist fantastisch. Das gibt es hier nicht.«
Wut Zurück in Israel, sei sie regelrecht deprimiert gewesen, »weil alles, was man anfasst, völlig überteuert ist. Es fängt beim Toilettenpapier an, geht über Obst und Gemüse bis zur Flasche Wein. Das macht mich wütend«.
Auch David Friedlander, der vor vier Jahren aus den USA der Liebe wegen nach Tel Aviv gezogen ist, hat die Nase voll von den Preisen. »Ich komme aus New York. Da ist es schon teuer, aber hier ist es unbezahlbar geworden – alles Fantasiepreise, die mit der Realität nichts zu tun haben. Am Ende des Monats ist auf unserem Konto nicht mehr viel übrig. Das frustriert.«
Obwohl Friedlander in der Hightech-Branche arbeitet und gut verdient, hadert er mit den Kosten. »Ich habe schon das meiste für unsere Feier besorgt. Zehn Leute sollen kommen, und allein der Supermarkt hat unser Budget gesprengt.« Das, so der 32-Jährige, »trübt die Freude, in diesem wundervollen Land zu leben, ungemein«.
Das Start-up-Unternehmen für Medizinprodukte, bei dem er angestellt ist, habe vor den Feiertagen stets großzügige Geschenke an die Mitarbeiter verteilt, Einkaufsgutscheine oder Elektrogeräte. Doch auch das sei vorbei. »Wirtschaftliche Gründe«, so habe das Management kurz und knapp verlauten lassen.
Armut Dabei gehören Shainman und Friedlander zu den Besserverdienern in Israel. Andere müssen offenbar regelrecht hungern – selbst an den Feiertagen. Latet, eine der größten Nichtregierungsorganisationen, die sich dem Kampf gegen Armut verschrieben hat, veröffentlichte jetzt einen Bericht mit schockierenden Zahlen: Eine von fünf israelischen Familien ist mit Ernährungsunsicherheit konfrontiert. Vor den Hohen Feiertagen seien knapp 700.000 Familien betroffen, rund 313.000 Familien litten sogar unter »extremer« Ernährungsunsicherheit.
»Man kann eine Realität nicht ignorieren, in der über eine Million Kinder mit Hunger leben müssen«, kommentierte Latet-Direktor Eran Weintrob. »Der Anstieg der Preise für Lebensmittel, Konsumgüter und Strom sowie ein Anstieg der Marktzinsen sorgen dafür, dass die Schwächsten weiter geschwächt werden.«
Ohne eine angemessene Antwort auf die steigenden Lebenshaltungskosten und einen staatlichen Aktionsplan zur Linderung der Armut, so Weintrob, »wird sich die Situation nur verschlimmern«. Das Arbeits- und Sozialministerium hatte angekündigt, ein Hilfsprojekt, das etwa 40.000 Familien unterstützt, auf insgesamt 60.000 Familien zu erweitern. Doch Weintrob weiß, dass dies ein Tropfen auf den heißen Stein ist.
Wahlen Das Thema könnte sogar bei den kommenden Parlamentswahlen am 1. November ein entscheidender Faktor werden. Laut einer Umfrage des Israel Democracy Institute gaben 44 Prozent der Befragten an, dass die Frage der Lebenshaltungskosten ihre Entscheidung bei der Stimmabgabe beeinflusse. Von den Umfrageteilnehmern aller Parteizugehörigkeiten sagten 85 Prozent, sie seien sicher, dass die Lebenshaltungskosten in Israel höher sind als in vielen westlichen Ländern.
Dass dies tatsächlich so ist, belegen die Zahlen. Obwohl die Inflation mit 5,2 Prozent niedriger ist als in weiten Teilen Europas oder in den USA, steigen die Preise für viele Waren, die ohnehin bereits teuer sind, derzeit so schnell wie seit 2008 nicht mehr.
Das Zentralamt für Statistik gab im Juli an, dass der Verbraucherpreisindex auf dem Weg zu einem jährlichen Anstieg von fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sei. Der Index bildet die durchschnittlichen Kosten von Haushaltsgütern ab. Er bezieht die Immobilienpreise nicht mit ein, denn die schossen im Vergleich zum Vorjahr bereits um mehr als 15 Prozent in die Höhe.
Höchstpreise Im vergangenen Jahr hatte die »Economist Intelligence Unit«, ein Unternehmen, das eng mit der Wochenzeitung »The Economist« verbunden ist, Tel Aviv als teuerste Stadt der Welt eingeschätzt. In einer aktuellen Untersuchung der Preisvergleichswebsite »Money.co.uk«, die die durchschnittlichen Kosten eines Lebensmitteleinkaufs in 36 Ländern analysiert, liegt Israel in Bezug auf die Preise für Essen und Trinken an sechster Stelle.
Dass die Preise außer Kontrolle geraten sind, bestätigen auch Wirtschaftsexperten. Dabei ist ein Ende offenbar noch lange nicht in Sicht. Zwar hatten verschiedene Lebensmittelproduzenten, darunter Osem-Nestlé und der Großimporteur Diplomat, Erhöhungen nach Protesten von Verbrauchern zunächst eingefroren, doch lediglich bis nach den Feiertagen. Danach sollen die Israelis noch mehr berappen müssen – für manche Produkte sogar zusätzlich 16 Prozent.
Jetzt rief der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbands Histadrut, Arnon Bar-David, die Verbraucher dazu auf, jene Firmen zu boykottieren, deren Preise einfach überzogen seien.
Ein Unternehmen, das die Bürger missbraucht, muss mit den Folgen seines Handelns durch einen Verbraucherboykott fertigwerden.
Arnon Bar-David
Finanzminister Avigdor Lieberman erklärte dazu, dass die »Weltwirtschaftskrise« einige Preiserhöhungen unvermeidlich gemacht habe, versprach aber, dass die Preise einzelner Waren, darunter Obst und Gemüse, bald sinken würden, weil er mehr Importe erlauben werde. »Wir werden weiterhin sowohl die hohen Lebenshaltungskosten als auch diejenigen bekämpfen, die diese Zeit auf zynische Weise nutzen, politische Punkte zu sammeln.«
Die Shainmans wollen trotz arg strapazierter Bankkonten auf keinen Fall auf ein großes Familienfest an Rosch Haschana verzichten. Im Gegenteil: Es kommt sogar Familie aus dem Ausland angereist. »Ich bin Gastgeberin, natürlich muss ich Geschenke kaufen und jeden Tag köstliches Essen auftischen. Je mehr, desto besser«, sagt sie und lacht. »Denn gerade nach Corona wollen wir als Familie beisammen sein und das Leben genießen. Es kostet Tausende Schekel, aber ich freue mich so sehr, meine Familie endlich wieder um mich haben zu können. Das ist mir jeden Schekel wert.«