Bedächtig bewegt sie sich in Richtung Ausgang – rückwärts. Ihr knielanger Faltenrock wippt bei jedem Schritt. Im Blick hat die junge Frau stets das höchste Heiligtum ihrer Religion: die Westmauer in Jerusalem. Obwohl Sharon Wiener regelmäßig zum Gebet hierherkommt, ist sie jedes Mal aufs Neue von Ehrfurcht erfüllt. Für sie ist es »der herrlichste Ort des Judentums auf der ganzen Welt«. Leider ist dieser Platz im Herzen der Altstadt auch einer der umstrittensten der ganzen Welt. Seit Jahren kämpfen Frauen hier um ihr Recht auf das egalitäre Gebet, das ihnen die ultraorthodoxe Verwaltung der Kotel nicht zugestehen will.
Auf der linken Seite der Mauer, im wesentlich größeren Bereich, beten die Männer, viele von ihnen in der traditionellen Kleidung der Charedim. Rechts daneben ist der Platz, der Frauen vorbehalten ist. Die Abteilungen sind mit Planen voneinander abgetrennt. Die Geschlechtertrennung an der Westmauer ist strikt.
Ido, der Touristenführer einer Gruppe aus Argentinien, erklärt den Besuchern die Historie des Ortes. »Ultraorthodoxe Männer haben hier das Sagen und versuchen, den Frauen ihre Überzeugungen aufzuzwingen.« Wie sie das denn täten, fragt ein Mann aus der Gruppe. Ido erzählt von den »Women of the Wall«.
Anat Hoffman kennt deren Geschichte. Seit 1988 leitet sie die Gruppe, die sich für egalitäre Rechte an der Kotel einsetzt. Vor allem an Rosch Chodesch veranstaltet die Bewegung Gottesdienste an der Mauer, bei denen einige Frauen Gebetsschals tragen und aus der Tora lesen. Die Verwaltung empfindet das als Affront. Gemeinsam mit anderen Teilnehmerinnen, darunter Reform-, konservative und orthodoxe Jüdinnen, wurde Hoffman mehrfach festgenommen. Mittlerweile ist sie zum Symbol des Konfliktes über die religiösen Praktiken an der heiligen Stätte geworden.
Schlichtung In der vergangenen Woche intervenierte der Vorsitzende der Jewish Agency, Natan Sharansky, in dem Streit. Er schlug vor, aus den heute existierenden zwei Bereichen drei zu machen. Die Geschlechtertrennung, die die Orthodoxen verlangen, werde beibehalten, hinzugefügt werden solle jedoch eine Abteilung für das egalitäre Beten. Hier solle jeder nach seiner Fasson die religiösen Praktiken ausüben können, Frauen mit Kippa und Tallit inklusive. Reformierte und konservative jüdische Gemeinden aus dem Ausland, allen voran den USA, hatten Druck auf Israel gemacht, den Disput zu lösen. Sharansky: »Es gibt dringenden Bedarf für eine Lösung, damit die Westmauer wieder ein Ort der Einheit des jüdischen Volkes wird.«
»Das ist riesig«, sagt Hoffman. Zwar sei der Vorschlag nicht ideal, doch die Frauen seien kompromissbereit. »Das ist ein Angebot, das die Westmauer für alle Menschen öffnet.« Allerdings will sich die Aktivistin nicht zu früh freuen. Denn die Angaben, der Umbau dauere ein bis zwei Jahre und koste 100 bis 200 Millionen Schekel, seien nicht realistisch. »Es dauert wohl eher zehn Jahre und kostet diese Summe in Dollar.« Außerdem ist Hofmann skeptisch, ob die arabische Welt die Neugestaltung ohne Murren hinnehmen wird.
Oberhalb der Mauer liegen die Al-Aksa-Moschee und der Felsendom, die zu den höchsten Heiligtümern des Islam gehören. Nicht einmal Renovierungen können an diesem sensiblen Ort ohne die Gefahr eines Aufstands durchgeführt werden. Als die Mugrabi-Rampe, die zum Tempelberg führt, 2004 wegen Einsturzgefahr ausgebessert werden sollte, gab es arabische Proteste in der ganzen Welt. »Es wird auf jeden Fall nicht einfach werden«, glaubt Hoffman.
Doch offenbar soll das Projekt in die Tat umgesetzt werden. Sogar Kotel-Rabbiner Schmuel Rabinowitz gab sich versöhnlich. Nach israelischen Medienangaben war er in die Entwicklung von Sharanskys Vorschlag mit einbezogen. Anschließend erklärte er: »Unter den derzeitigen Umständen ist es wichtig, dass die Kotel kein Ort der Demonstrationen und des Streits ist, daher werde ich mich nicht widersetzen.«
Verhaftet Trotz dieser Nachrichten sind in den vergangenen Tagen – nachdem Sharanskys Vorschlag die Runde gemacht hatte – wieder Frauen an der Mauer verhaftet worden. Fünf Beterinnen, die sich Tallitot und Gebetsriemen umgelegt hatten, wurden von Polizistinnen abgeführt, aber nach mehreren Stunden wieder freigelassen. Richterin Sharon Bavli-Larry erklärte, die Frauen hätten niemanden provoziert, und weigerte sich, ihnen das Gebet an der Mauer zu verbieten.
Sharon Wiener, die junge Jüdin aus den USA, findet »das alles entsetzlich traurig«. Die Westmauer müsse Symbol für die Einheit der Juden sein, nicht für Zank. Doch genau das ist der Fall, wie sie selbst erlebt hat. Zweimal bereits sah die 23-Jährige, wie Frauen, die auf ihre Art beteten, von der Polizei abgeführt wurden – begleitet von einem Schwall von Verwünschungen und Flüchen aus dem Männerbereich.
»Es hat mir in der Seele wehgetan, zu sehen, wie Jüdinnen von jüdischen Polizisten im jüdischen Staat weggebracht werden, ohne dass sie etwas Schlimmes getan haben.« Wiener bezeichnet sich als orthodox und lebt nach den halachischen Regeln. Sie selbst verspüre keinen Drang, einen Gebetsschal umzulegen. Dennoch kann sie Frauen verstehen, die das wünschen.
»Religion ist etwas ganz Persönliches. Ich finde es furchtbar, anderen etwas aufzuzwingen oder zu verbieten«, sagt die junge Frau. »Also identifiziere ich mich mit den Frauen, die sich für ihr Recht einsetzen, nach eigener Vorstellung zu Gott zu beten. Auf ganzer Linie.«