Früher hätte man nicht zugegeben, dass man in Deutschland lebt. »Man sagte Schweiz, vielleicht Österreich«, meint Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. »Das hat sich völlig gewandelt. Heute gibt es sogar einen Bayern-München-Fanklub in Tel Aviv.« Eine Studie unter der Leitung von Professorin Gisela Dachs vom European Forum der Hebräischen Universität in Jerusalem (HU) beleuchtet die aktuelle israelische Wahrnehmung Deutschlands und die deutsche Wahrnehmung Israels.
»Mit neuen Regierungen in beiden Ländern ist die Zeit ideal, um die Temperatur der Beziehungen zu checken«, sagt Dachs. Es gebe alte Daten von 1992 bis 2011, »und jetzt ist es an der Zeit, diese Fragen noch einmal aufzugreifen«.
»Die Bedeutung dieser Umfrage liegt darin, dass wir nicht nur konkrete Daten darüber erhoben haben, was die Befragten denken, sondern auch, was sie tatsächlich tun.«
Gisela Dachs, Hebräische Universität in Jerusalem
»Die Bedeutung dieser Umfrage liegt darin, dass wir nicht nur konkrete Daten darüber erhoben haben, was die Befragten denken, sondern auch, was sie tatsächlich tun.« So wurde nach Reisen gefragt und wie die Kultur des anderen erlebt wird. »Denn sobald ein bestimmter Wissensmangel identifiziert ist, ist man besser in der Lage, ihn anzugehen.« Beides basiert auf repräsentativen Stichproben der Bevölkerung.
Religiosität In Israel ist die Affinität zu Deutschland an die ethnische Identifikation gebunden, jüdisch oder arabisch. Innerhalb der jüdisch-israelischen Bevölkerung ist die Wahrnehmung Deutschlands fast ausschließlich von der Religiosität der Befragten abhängig. Mit zunehmender jüdischer Religiosität wird die Einstellung negativer. In Deutschland verlaufen die Bruchlinien eher zwischen Altersgruppen, Männern und Frauen, Ost und West sowie zwischen Befragten mit und ohne Migrationsgeschichte.
Einige der wichtigsten Ergebnisse der Umfrage: Eine Mehrheit in beiden Ländern erwartet, dass die neue Regierung in Deutschland die Haltung von Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber Israel fortsetzt, einschließlich ihrer Feststellung, dass die Existenzsicherung Israels im nationalen Interesse Deutschlands liegt.
Gefragt nach der Möglichkeit, dass Deutschland als Vermittler zwischen Israel und anderen Ländern des Nahen Ostens auftritt, wünscht sich etwa die Hälfte der israelischen Befragten eine Beteiligung Deutschlands. Ungefähr derselbe Prozentsatz der Deutschen würde das Land gerne in dieser Rolle sehen. Jüngere Deutsche wünschen sich viel mehr als ältere eine diplomatische Zusammenarbeit.
Reisen 30 Prozent der israelischen und 13,6 Prozent der deutschen Befragten haben das Land des anderen tatsächlich besucht. Viele davon haben ihren Besuch wiederholt. Auf deutscher Seite stammen die meisten Befragten, die Israel besucht haben, aus Westdeutschland, sind ohne Migrationsgeschichte und im Durchschnitt 63 Jahre alt. Der Professor für jüdische Demografie an der HU, Uzi Rebhun, sieht das nicht als besonders aussagekräftig an, denn sicherlich würden pragmatische Gründe eine bedeutende Rolle spielen. »Reisen nach Israel sind schließlich relativ teuer.«
Weiter wurde nach Wissen über das andere Land und dessen Kultur gefragt. Fazit: »Es ist eher begrenzt.« Deutsche Befragte haben außerdem Schwierigkeiten, zwischen israelischer und jüdischer Kultur zu unterscheiden. Brenner sieht hier als einen Grund die »deutliche Asymmetrie« der Zentren für deutsche und israelische Studien an den Universitäten. »In Israel hat jede Hochschule mindestens ein Zentrum für Germanistik, in Deutschland aber kommt Israel an den Unis kaum vor.« Das erste Zentrum für Israelische Studien wurde 2015 in München eröffnet. »Und die Reaktionen waren hauptsächlich positiv. Ich hoffe also sehr, dass weitere Unis folgen.«
Mehr als die Hälfte der Deutschen (58 Prozent) stimmt zu, dass Antisemitismus derzeit ein Problem in ihrem Land ist. Die meisten Befragten (72 Prozent) sehen ihn von der extremen Rechten ausgehen, gefolgt von der gesamten Bevölkerung (70,1 Prozent) und 58 Prozent von der muslimischen Minderheit. Deutlich mehr Befragte aus dem Westen Deutschlands sehen Antisemitismus als Problem aus dem Osten an, wo Männer die Gruppe mit dem geringsten Anteil waren, der zustimmte (38,5 Prozent).
antisemitismus Brenner betrachtet das als problematisch: »Denn obwohl bei den Beziehungen zwischen Israel und Deutschland vieles normal geworden ist, wächst gleichsam der Antisemitismus – und das ist eine komplizierte Entwicklung.«
»In Israel hat jede Hochschule mindestens ein Zentrum für Germanistik.«
Michael Brenner, Historiker
»Kritik an israelischer Politik ist nicht immer ein antisemitischer Akt«, meinen 66 Prozent der Befragten in Deutschland, so die Studie. Auch in Israel sieht eine Mehrheit Kritik an der Politik ihres Landes nicht unbedingt als eine Form von Antisemitismus an, glaubt aber, dass es zumindest manchmal eine Verbindung zwischen beidem geben kann. Auch Professor Rebhun ist der Meinung, dass »Äußerungen gegen die Politik Israels und gegen Juden nicht dasselbe sind. Daher sollte dieses Thema viel breiter diskutiert werden«.
Gisela Dachs plant, alle zwei Jahre ähnliche Umfragen durchzuführen, damit Veränderungen von Einstellungen und Erfahrungen aussagekräftig verfolgt werden können. Sie ist sicher, dass sich Israel und Deutschland in einer kritischen Phase ihrer Beziehung befinden, da eine jüngere Generation in beiden Ländern beginnt, die Zügel in jedem Aspekt des Lebens zu übernehmen.
»Wir müssen in die Zukunft schauen«, sagt Dachs. »Die Geschichte ist eine starke Säule, aber sie verblasst. Die Herausforderung besteht darin, eine gemeinsame Zukunft zwischen Israel und Deutschland aufzubauen, die nicht nur auf einer gemeinsamen Vergangenheit gründet.«