Kultur

Storys aus der wahren Stadt

Die saftige Orange, die erste hebräische Stadt, die Weiße, die Blase, der Frühlingshügel, Start-up-City, Nonstop-Stadt oder auch Bauhaus-Metropole. So viele Namen Tel Aviv-Jaffa zugeordnet werden, so viele Facetten hat die Stadt auch. Hier, im Beit Ha’Ir, dem »Haus der Stadt«, sollen Besucher diese erkunden. Doch das neu restaurierte erste Rathaus, in dem der legendäre Bürgermeister Meir Dizengoff einst seine Amtsgeschäfte erledigte, ist nicht nur städtisches Museum und Zentrum für Kulturgeschichte, es ist vor allem ein Ort, an dem sich die Stadtbewohner selbst präsentieren können.

Der Bialik-Komplex, ein UNESCO-Weltkulturerbe, beherbergt neben dem Beit Ha’Ir vier weitere Kulturstätten: das Museum und ehemalige Wohnhaus des Nationaldichters Chaim Nachman Bialik, das Architekturzentrum Liebling-Haus, das Felicia-Blumental-Musikzentrum und das Museum des Malers Reuven Rubin. Im Zentrum steht leuchtend weiß jenes Gebäude von 1925, das heute nach den Philanthropen Shoshana und Zvulun Tomer benannt ist. Sie meinten, Tel Aviv brauche sein eigenes städtisches Museum, rührten bei Bürgermeister Ron Huldai die Werbetrommel und spendeten Geld.

»Wie ein Detektivspiel«

Über die Treppe schreitet man in den lichtdurchfluteten Innenbereich. Gleich am Anfang rüttelt die Ausstellung an einem Mythos: Wurde das Gebiet der künftigen Metropole vor mehr als 115 Jahren wirklich wie in einer Lotterie mit Muscheln zwischen den Gründern aufgeteilt? In welcher Beziehung steht das moderne Tel Aviv zum antiken Jaffa, das auf eine mehrere Tausend Jahre alte Geschichte zurückblickt? »Es ist wie ein Detektivspiel«, sagt die Kuratorin und Ausstellungsleiterin Hadas Yossifon und zwinkert, »und die Besucher sollen mitraten«.

Auf drei Etagen wird die Geschichte der Stadt erzählt, doch statt der Chronologie zu folgen, geht es dreisprachig auf Hebräisch, Arabisch und Englisch eher thematisch zu. So wird Tel Aviv in einem Bereich als Zentrum des Protests beschrieben, und das nicht erst seit 2023. An anderen Stellen geht es um »heilig und säkular« oder um die Demografie, die jedes Jahr aktualisiert wird. Fast alle Ausstellungsbereiche sind interaktiv »und sollen auf jeden Fall angefasst werden«, macht die Kuratorin klar.

Man schmunzelt, lacht laut auf und wird manches Mal gar melancholisch.

Der Bereich der Wechselausstellung beschäftigt sich jedes Jahr mit einem anderen Thema. »Tel Aviv ist hektisch, die Menschen arbeiten viel und sind immer in Bewegung«, erklärt Yossifon dazu. »Das spiegelt die Ausstellung Arbeit und Freizeit wider.« Im Gegensatz zur ursprünglich zionistischen Idee, die »eine Heimstätte über die Bearbeitung des Landes schaffen« sollte, sei in Tel Aviv Arbeit mit Kultur verbunden worden, weiß sie. »Bürgermeister Dizengoff hat sehr früh erkannt, dass er Geld, Arbeit und Kultur zusammenbringen muss. Das macht Tel Aviv bis heute so besonders, erfolgreich und füllt die Stadt mit Leben.«

Das Herzstück des Museums befindet sich im Untergeschoss. Passend zu den farbenfrohen Betonfliesen, ein Klassiker der Tel Aviver Innenarchitektur, erzählen Stadtbewohner hier ihre ganz persönlichen Geschichten. »Die Menschen sollen Teil des Museums sein«, so Yossifon. Denn die Geschichte einer Stadt sei immer auch die Geschichte der Städter. »Tel Aviv ist Ambiguität, voller Liebe und manchmal auch mit ein wenig Hass. Es ist eine wahrhaftige Stadt – und an diesem Platz sollen alle Gefühle geteilt werden.« Mittlerweile sind mehr als 800 Geschichten gespeichert, und ständig kommen neue dazu, die über verschiedene Stichworte wie Gemeinschaft, Religion oder Alter aufgerufen werden können.

»Wir wollten diesen Bereich im Stil eines klassischen Salons aufbauen«, sagt die Kuratorin und zeigt auf die unterschiedlichen Stühle, die charakteristisch für die Stadt stehen. »Man macht es sich auf einer der Sitzgelegenheiten bequem und hört einfach zu. Mehr muss man gar nicht tun.« Die Tel Avivis können ihre Erzählungen online einreichen, »wir geben nichts vor. Alle Erfahrungen sind bei uns willkommen«. In einer Geschichte teilt jemand Kindheitserinnerungen an den Saftstand seines Großvaters auf der Allenby-Straße. In einem anderen Bericht erzählt ein Bewohner von seinen Erlebnissen in den vielen Bars der Stadt.

Stoff für Gespräche, Fragen und andere Perspektiven

Wer Tel Aviv kennt, findet die Besonderheiten der Stadt in vielen Erzählungen wieder. Man schmunzelt, lacht laut und wird manches Mal gar melancholisch. Doch man muss nicht von hier sein, das Museum bietet jede Menge Stoff für Gespräche, Fragen und andere Perspektiven – auch für jene, die die Stadt gern näher kennenlernen würden.

Im Ausgangsbereich ist eine Pinnwand angebracht. Besucher sollen aufschreiben, was ihrer Meinung nach »nur in Tel Aviv geschehen« könne. Auf einem gelben Zettel steht: »Wenn man um vier Uhr morgens beim Tanzen auf den Mathelehrer seines Sohnes trifft.« Ein anderer Besucher schreibt: »Wenn man sich bei Raketenalarm in den Schutzraum eines Restaurants rettet und später gechillt dort einen Drink nimmt. Das ist Tel Aviv.«

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