Freitagmittag, viertel nach zwölf. Der Schabbat steht vor der Tür, langsam versiegt der Stress der Woche. In Ramat Aviv allerdings wogen so kurz vor dem Wochenende Wellen der Wut, wenn die zwei Gruppen vor Schulen und in Parks aufeinandertreffen: Auf der einen Seite stehen besorgte Einwohner und Eltern, auf der anderen die Mitglieder der orthodoxen Bewegung Chabad Lubawitsch. Immer wieder freitags probieren Männer in dunklen Anzügen mit Hüten und Bärten, junge Leute zum Gebet oder Torastunden einzuladen und versuchen Eltern gleichzeitig, ihre Kinder vor den Bekehrungsversuchen zu schützen. Der säkulare Tel Aviver Stadtteil ist Hochburg reicher SUV-Fahrer, doch ebenso alteingesessener Linksliberaler, Künstler und Studenten. Vor einer Woche kritisierte Tel Avivs Bürgermeister Ron Huldai das Vorgehen von Chabad. Jetzt machte die Bürgerinitiative »Freies Ramat Aviv« ihrem Unmut bei einer Demonstration Luft.
Die Chabad-Bewegung ist weltweit aktiv. Ihre Mitglieder sprechen Juden auf der Straße an, Männern helfen sie, Gebetsriemen anzulegen, Frauen geben sie Schabbatkerzen mit, sie laden zum Unterricht und Feiern ein. Viele Kritiker werfen der Bewegung Sektierer- und Missionartum vor, das in anderen Strömungen des Judentums verpönt ist.
Bürgerinitiative In Ramat Aviv mag man keine Bekehrer. »Wir alle leben seit 60 Jahren hier zusammen in Frieden. Die müssen nicht kommen und uns erzählen, dass sie die besseren Juden sind«, sagt Sharon Becker von »Freies Ramat Aviv«. Die Bürgerinitiative wurde vor einem Jahr mit dem Ziel gegründet, den Chabadniks zu untersagen, Kinder und Jugendliche anzusprechen. »Wir haben kein Problem mit religiösen Menschen«, macht sie sofort klar, »nur mit den Methoden von Chabad in unserem Stadtteil.« Warum? »Weil sie hundertprozentig darauf aus sind, den säkularen Charakter von Ramat Aviv zu verändern und unsere Kinder abfangen, um sie zu religiösen Eiferern zu machen. Und wir wollen das nicht.«
Das Chabad-Zentrum in Ramat Aviv existiert bereits seit 14 Jahren. Vor zwei Jahren jedoch seien die Methoden immer extremer geworden, so die Sprecherin der Bürgerinitiative. »An Freitagabenden treffen sich viele Jugendliche am Schuster-Einkaufszentrum. Plötzlich waren auch die Chabadniks da, stellten einen Tisch mit Wein und Süßigkeiten auf und begannen, unsere Kinder zu bequatschen. Es ist schrecklich, die Kinder suchen nach Identität, und dann kommen die mit ihrer Gehirnwäsche.«
Außerdem würden ihre Auftritte immer mehr zur Propaganda verkommen, ist Becker sicher. »Es hat nichts mit gewöhnlichem religiösen Leben zu tun, damit hätten wir überhaupt kein Problem, doch wenn sie ständig auf der Straße und im Supermarkt krakeelen, ›Der Maschiach kommt bald‹ oder die Musik aus ihren Lieferwagen plärrt, ist das extrem störend.«
Knesset Der Knessetabgeordnete Nitzan Horowitz von der Meretz-Fraktion hat mitdemonstriert. Er betonte, dass sich die Kampagne nicht gegen Charedim generell richte. »Stattdessen geht es um Organisationen, die das Leben der Anwohner durch illegale Methoden stören.« Horowitz hatte vor einer Weile eine Petition in der Knesset eingereicht, die es Fremden verbieten solle, Minderjährige ohne Erlaubnis der Eltern anzusprechen, ihnen etwas anzubieten, seien es Tefillin, Seminare oder Bonbons. Die Petition scheiterte. Chabad-Sprecher Rabbi Menachem Brod meint, dass ein Journalist wie Horowitz nicht gegen die Meinungsfreiheit vorgehen solle. »Denn die gibt Menschen die Möglichkeit mit ihrem Erbe bekannt zu werden.« Auch der Oberrabbiner Yona Metzger stellt sich hinter Chabad: Er kritisierte die Bürgerinitiative und ist überzeugt, der Konflikt in Ramat Aviv »ist das größte Kompliment, das den Erfolg der Chabad-Aktivitäten bescheinigt«.
Ein Chabad-Mitglied, das sich nur Avi nennen möchte, ist sicher, dass jedoch die demonstrierenden Leute lediglich einen kleinen Teil der Bevölkerung in Ramat Aviv darstellen, dass die Mehrzahl der Menschen für Chabad sei. »Wir bringen den Menschen viel Gutes, helfen überall, und das sehen sie«, sagt der Mann, der selbst von der Bewegung zur Religion gebracht wurde. Früher war er säkular und lebte in Beer Schewa. Ob er es richtig finde, Kinder ohne Zustimmung von Erziehungsberechtigten anzusprechen und einzuladen? »Ja, denn wir zwingen doch niemanden, sondern bieten es nur freundlich an, weil wir daran glauben, allen Juden etwas mehr Jüdischkeit bringen zu müssen.«
Kritik »Wir sind an einem Punkt angekommen, wo säkulares und religiöses Judentum nicht mehr dieselbe Religion zu sein scheinen«, gab Stadtratsmitglied Reuven Ladiansky auf der Demonstration zu bedenken, »doch wir haben genug. Keine religiöse Nötigung mehr, sondern das Motto: ›Leben und leben lassen!‹.« Becker stimmt dem zu, ist jedoch zugleich betroffen über Anfeindungen, die Initiative sei antijüdisch. »Quatsch! Wir lassen sie in Ruhe, wenn sie uns in Ruhe lassen. Wir wollen hier einfach nur in einer pluralistischen Gesellschaft leben, in der alle so akzeptiert werden, wie sie sind, ohne dass einer den anderen ändern will.«