Ein Mittwochnachmittag, ein fensterloser Studienraum in der Zentralbibliothek von Tel Aviv. Rund 20 Frauen und Männer sitzen um einen Tisch herum, Studenten und Rentner, Männer mit und ohne Kippa; über ein Blatt Papier gebeugt, lesen sie stockend Worte aus einer fremden Sprache vor. Ein wenig hart klingt sie, etwas gepresst, grollend und zischend. So sprachen einst Marokkos Juden, bevor die meisten von ihnen im 20. Jahrhundert nach Israel kamen.
Dieses »Jüdisch-Marokkanisch«, wie sie es hier nennen, ist eine altmodische Form des marokkanisch-arabischen Dialekts, angereichert mit Ausdrücken aus dem Hebräischen, geschrieben in hebräischen Buchstaben; sein Klang ähnelt jedoch weder dem lokalen palästinensischen Dialekt noch dem modernen Hebräisch. Am Kopf des Tisches wacht der Kursleiter Moshe Cohen gnadenlos über die Aussprache seiner Schüler. »Il-Yahud ...«, liest ein junger Mann stockend ab, schon fährt Cohen dazwischen: »Yehud, Yehud heißt es! ›Yahud‹ gibt’s nur bei den Muslimen.«
Muttersprache Cohen, ein emeritierter Professor und selbst in Marokko geboren, lehrte früher arabische Grammatik an israelischen Hochschulen. Seit einem Jahr gibt er wöchentliche Kurse in seiner Muttersprache. Dass sich junge Israels so für eine Sprache begeistern, die wenig praktischen Nutzen verspricht, habe ihn selbst überrascht, gibt Cohen in einer Kurspause zu. »Ich schätze, das ist eine Reaktion darauf, dass diese Sprache so lange verdrängt wurde. Die meisten marokkanischen Einwanderer wollten, dass ihre Kinder nur Hebräisch sprechen, damit sie sich integrieren.«
Moshe Prigan, ein 32-jähriger Kursteilnehmer mit marokkanischen Wurzeln, bestätigt: »Meine Großmutter hat sich für ihre Herkunft und ihre Sprache geschämt. Wenn ich mich heute mit ihr auf Marokkanisch unterhalten will, sagt sie: ›Sprich nicht so, das macht dir nur Probleme.‹«
Arabisch galt in den Jahrzehnten nach der israelischen Staatsgründung als Sprache des Feindes; zudem verachteten viele europäischstämmige Israelis die Kultur ihrer orientalischen Mitbürger als rückständig. Künstler und Sänger, die in ihren arabischen Heimatländern bewundert wurden, galten in dem jungen Staat nichts mehr.
A-Wa Seit einigen Jahren jedoch ist in Israel eine Trendwende zu beobachten, ein regelrechtes Revival der sefardischen Kultur: Junge Sängerinnen wie Neta Elkayam, Rita Jahanforuz und die drei Schwestern der Band A-WA singen in den arabischen und persischen Dialekten ihrer Vorfahren; ein vom Bildungsministerium beauftragtes Komitee empfahl kürzlich, das kulturelle Erbe sefardischer Juden in die Lehrpläne israelischer Schulen zu integrieren; und im vergangenen Sommer lud Yaacov Margi, ein marokkanischstämmiger Abgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Kultur und Sport, Moshe Cohen und seine Schüler sogar in die Knesset ein.
Orly Simon, Leiterin der Abteilung für öffentliche Dienstleistungen der Nationalbibliothek in Jerusalem, brachte ihre marokkanischstämmigen Eltern mit. Ihr Vater habe anschließend geweint: »Nie in meinem Leben hätte ich es für möglich gehalten, dass einmal ein solches Treffen in der Knesset stattfindet!«
Wurzeln Orly Simon war es, die die Sprachkurse vor gut einem Jahr zusammen mit Moshe Cohen ins Leben rief. Kurz zuvor hatte sie mit ihren Eltern und ihren Kindern Marokko besucht, eine Drei-Generationen-Reise zurück zu den eigenen Wurzeln. Seitdem ließ dieses fremde und doch vertraute Land sie nicht mehr los.
Sie schlug Cohen vor, einen Jüdisch-Marokkanisch-Kurs in der Nationalbibliothek anzubieten, und stellte eine Anzeige auf Facebook. Mit sechs, sieben Teilnehmern rechnete sie. 30 tauchten auf, manche extra angereist aus Tel Aviv oder Netanya. Wegen des Andrangs eröffneten Simon und Cohen bald einen zweiten Kurs in Tel Aviv, ein dritter soll im Herbst in Aschdod beginnen. In Jerusalem soll außerdem bald ein Kurs in jüdisch-jemenitischem Arabisch starten. Er ist schon im Voraus ausgebucht.
So begeistert, so berührt spricht Orly Simon von diesem unerwarteten Andrang, als glaubte sie selbst noch kaum daran. »Lange bedeutete die Erinnerung an die Einwanderung unserer Eltern vor allem Schmerz: die Aufgabe der Heimat, die Diskriminierung«, sagt sie. »Jetzt aber beschäftigen wir uns mit den positiven Seiten dieser Erinnerung. Das ist eine sehr schöne Erfahrung, intellektuell wie emotional.«
Aus der anfangs losen Gruppe von Schülern ist inzwischen eine Gemeinschaft geworden: Sie treffen sich außerhalb der Kurse, feiern marokkanische Feste, tauschen sich täglich in einer Whatsapp-Gruppe aus. Oft geht es um das gemeinsame Erbe: Sie fragen nach marokkanischen Vokabeln, laden Originaltexte hoch oder verschicken Fotos von ihren Marokkoreisen. Nur ein Thema ist tabu: Politik. Die scharfe Polarisierung, die giftigen Anfeindungen, die die politische Debatte in Israel prägen, sollen die neue Gemeinsamkeit nicht stören. »Wenn doch mal jemand etwas Politisches schreibt, bringen die anderen ihn sofort zum Schweigen«, sagt Orly Simon und lacht: »Auch das ist etwas ganz Besonderes! Wo gibt es so etwas heute noch in Israel?«