Gewalt ist dieser Tage ein Thema in Israels Medien. Bilder von Polizeigewalt gegen Demonstranten und streng religiösen Juden, die Corona-Regeln brechen, mehren sich, ebenso Berichte über Gewalt gegen Polizisten.
Fälle häuslicher Gewalt verdreifachten sich laut offiziellen Angaben; Jugendarbeiter sprechen von einem Anstieg von sexueller Gewalt, Obdachlosigkeit und Depressionen. Mehr als zwei Wochen nach Beginn des zweiten Corona-Lockdowns steigt die Verzweiflung der Israelis – und sinkt die Unterstützung für das Krisenmanagement der Regierung.
gesellschaft Auch bei der zweiten Corona-Welle sei Israel das erste Land im Lockdown, twitterte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Montagabend. Ein Blick in die Kommentare lässt erahnen, was viele Landsleute von dem bizarren Eigenlob halten: ein zynischer Schlag ins Gesicht einer Gesellschaft, der es zunehmend unmöglich scheint, mit den massiven Auswirkungen der Pandemie fertig zu werden. Der Lockdown, kündigte Netanjahu gleichzeitig an, werde um mindestens eine weitere Woche verlängert: bis 14. Oktober.
Der Widerstand der Zivilgesellschaft gegen den erneuten öffentlichen Stillstand wächst.
Der Widerstand der Zivilgesellschaft gegen den erneuten öffentlichen Stillstand wächst. Auch wenn weiter eine überraschende Mehrheit die strikten Regeln befolgt, scheint es, als stünden Geduld und Leidensfähigkeit kurz vor dem Ende.
Streng religiöse Juden wollen nicht länger ohne ihr traditionelles Gebets- und Studienleben auskommen; der Mittelklasse fehlt die Arbeit, Eltern die Betreuung und Bildung ihrer Kinder, traditionellen Milieus die Massenhochzeiten und die Vereinigung der Großfamilien. Selbst Minister halten es nicht länger aus und brechen die selbst aufgestellten Regeln. Die Polizei, offenbar überfordert mit der Kontrolle der Lage, greift immer brutaler durch.
quarantänebestimmungen »Wir sind die Trottel, die die Quarantänebestimmungen einhalten, auch wenn sie von politischen Erwägungen getrieben werden«, kommentierte der linke Aktivist und Politiker Jariv Oppenheimer am Montag auf Facebook. Wir – das ist in Oppenheims Liste der Lamentationen ebendiese Mehrheit, die noch die Regeln einhält: »Demonstrieren in Kapseln, in der Nähe von zu Hause; Schlucken von Respektlosigkeit, Schlägen und Berichten« – während es in den ultraorthodoxen Städten weitergehe wie gewohnt.
Oppenheimers Kritik trifft einen wunden Punkt in Netanjahus Taktik. Mitte März hatte der sein Land in einen ersten Lockdown geschickt. Die Bilder aus Italien halfen, Angst zu schüren. Doch die Infektionszahlen blieben niedrig, die Sterblichkeit gering. Ende April wurden die Maßnahmen wieder gelockert – aus Sicht der Experten zu früh, zu schnell und zu planlos. Die Zahlen schnellten drastisch in die Höhe. Das Vertrauen in die Behörden und ihre Maßnahmen war da längst weg.
Seit Mitte Juli zieht es Tausende Israelis auf die Straßen. Netanjahu muss weg, lautet ihre zentrale Forderung.
Seit Mitte Juli zieht es Tausende Israelis auf die Straßen. Netanjahu muss weg, lautet ihre zentrale Forderung im Protest gegen den wegen Korruption, Betrug, Untreue und Bestechlichkeit angeklagten Regierungschefs.
demonstrationen Ein zweiter Lockdown seit 18. September, der auch die Demonstrationen auf einen Radius von einem Kilometer um die je eigene Wohnadresse bannte, förderte die Stimmung im Land ebenso wenig wie die offensichtlichen Privilegien der ultraorthodoxen Juden; sei es durch angebliche Geheimabsprachen zu Massenfeiern während der Feiertage oder durch polizeilich genehmigte Begräbnisfeiern mit Hunderten Teilnehmern.
Die antidemokratischen Maßnahmen seien darauf angelegt, Netanjahu das politische Überleben zu sichern, heißt es aus dem Chor seiner Gegner. Nur so habe er eine Chance, den Gerichtsprozess gegen ihn zu stoppen. Demonstrationen sind dabei wenig förderlich.
Vergleichbare Einschränkungen im ultraorthodoxen Milieu jedoch wären ein Affront der überlebenswichtigen streng religiösen Koalitionspartner – so erklären Kritiker den Eiertanz der Regierung, den sie immer weniger hinzunehmen bereit sind. Während auf sozialer Ebene die zerstörerischen Nebenwirkungen der Anti-Corona-Politik immer sichtbarer werden, scheint das Virus das Land auf politischer Ebene immer näher an eine vierte vorgezogene Neuwahl binnen zwei Jahren zu bringen.