»Carmel … Ori … Eden … Alex … Almog … Hersh …« Die Namen klingen durch die Nacht. Verzweifelt, wie die schmerzverzerrten Schreie eines Verwundeten, der um Hilfe ruft. Dann Schweigen. Denn Carmel, Ori, Eden, Alex, Almog und Hersh sind tot. Kaltblütig ermordet von ihren Henkern. Die jungen israelischen Geiseln wurden von Hamas-Terroristen aus nächster Nähe hingerichtet. Um ihnen zu gedenken, stehen an diesem Sonntagabend mehr als 500.000 Israelis im ganzen Land auf den Straßen.
Die Massenproteste, der größte davon in Tel Aviv mit rund 300.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, sollen den Druck erhöhen, ein Abkommen zu erreichen, das die noch 101 Geiseln in der Gewalt der Hamas freibekommt. Als die Namen der Ermordeten erklingen und die Masse danach still in einer Schweigeminute steht, lassen viele der Anwesenden ihren Tränen freien Lauf. Der Schock über die brutale Ermordung der jungen Menschen hat die Israelis tief getroffen. Die Wut über die monatelange Verzögerung eines Deals, der Leben retten könnte, wächst. Es war der größte Protest in Israel seit dem 7. Oktober.
Auf Schildern entschuldigten sich die Israelis bei den Getöteten
Nach der Ankündigung eines Generalstreiks durch die größte Gewerkschaft des Landes, Histadrut, und der Aufforderung von Angehörigen der Geiseln, Oppositionspolitikern, Stadtverwaltungen und Kulturverbänden am Sonntagnachmittag, für einen Deal zu protestieren, folgten dem Aufruf eine halbe Million Israelis. »Das ganze Land soll erzittern«, erklärte das Forum der Familien für Geiseln und Vermisste.
Viele erschienen in T-Shirts mit Aufdrucken: »Bring them home now« (Bringt sie jetzt nach Hause) und gelben Bändern um die Handgelenke, die Farbe, die symbolisch für die Befreiung der Geiseln steht. Auf Schildern entschuldigten sich die Israelis bei den Getöteten, dass sie sie nicht gerettet haben. »Slicha, Carmeli«, stand schwarz umrandet – Entschuldigung, Carmeli.
Der Protest in Tel Aviv begann mit einem Marsch von der Dizengoff-Straße zum Begin-Tor des Armee-Hauptquartiers, bei dem sechs symbolische Särge für die sechs Toten getragen wurden. Einen Tag zuvor hatte die IDF die Leichen von Hersh Goldberg-Polin (23), Eden Yerushalmi (24), Ori Danino (25), Almog Sarusi (27), Alex Lobanov (32) und Carmel Gat (40) in einem Tunnel in der südlichen Stadt Rafah im Gazastreifen aufgefunden.
Eine Autopsie ergab, dass sie zwischen Donnerstag- und Freitagmorgen aus nächster Nähe mehrfach in Kopf und Körper geschossen worden waren. Die Nachricht, dass die Geiseln fast elf Monate in der brutalen Gefangenschaft der Hamas überlebt und dann hingerichtet wurden, empfinden die Israelis als unfassbare Grausamkeit. Die sterblichen Überreste wiesen zudem keine weiteren Verletzungen auf, sie hätten also überleben können.
Polizei setzt Wasserwerfer gegen Autobahn-Blockierer ein
Die große Wut darüber richtete sich bei den Protesten größtenteils gegen Premierminister Benjamin Netanjahu, der persönlich beschuldigt wird, ein Abkommen für die Befreiung der Geiseln zu verhindern. »Wir dürfen nicht noch mehr Tote bekommen – wir wollen unsere Leute lebend zurück«, schrien die Menschen und skandierten den Slogan »Isskah ach’schaw!« (Deal jetzt). Sie fordern von Netanjahu und seiner Regierung, dass sie einen Deal mit der Terrororganisation Hamas eingehen.
»Netanjahu hat den unzerbrechlichen Vertrag mit dem israelischen Volk gebrochen, niemanden zurückzulassen.«
Die Polizei geriet im Anschluss an den offiziellen Teil des Protests mit einigen der Tausenden von Demonstranten auf der Stadtautobahn Ayalon aneinander, als die versuchten, die Straße zu blockieren und Feuer anzündeten. Die Polizei reagierte mit Wasserwerfern und Blendgranaten. Mehrere Personen wurden leicht verletzt, darunter die Abgeordnete der Arbeitspartei, Naama Lazimi, und ihr Berater.
Nadav Rudaeff, der Sohn von Lior Rudaeff, der am 7. Oktober von der Hamas ermordet und dann nach Gaza entführt worden war, sagte, die Regierung habe den »unzerbrechlichen Vertrag mit dem israelischen Volk gebrochen, niemanden zurückzulassen«.
»Wenn Sie nicht immer wieder einen Deal sabotiert hätten, wären 26 Geiseln, die in Gefangenschaft ermordet wurden, heute hier bei uns, lebend. Sechs von ihnen haben bis letzte Woche in einer Hölle überstanden, die die meisten von Ihren Koalitionsmitgliedern nicht einen einzigen Tag überlebt hätten«, richtete er sich persönlich an Netanjahu.
Gewerkschaftschef wirft Regierung Imstichlassen vor
Ilana Gritzewsky, die Freundin von Matan Zangauker, der noch immer in der Gefangenschaft der Hamas ist, war über 50 Tage lang Geisel. Sie sagt, dass sie genau wisse, wie die »Hölle der Hamas« aussehe. Doch Netanjahu »weiß nicht, wie es ist, dem Tod jeden Tag ins Auge zu blicken und dann seine Worte in Gaza im Radio zu hören, dass »der Krieg lang sein wird«. Er hat keine Ahnung, wie es den Geiseln dort geht - und es ist ihm egal.«
»Im – Stich – lassen. Das sind die Worte, die zu dieser Haltung passen«, rief Gewerkschaftsführer Arnon Bar-David der Menge zu. »Alles wird im Stich gelassen: die Geiseln, der Süden und Norden des Landes, die Wirtschaft – und das alles, während Staatsgelder in völlig unnötige Regierungsstellen fließen.« Wenige Stunden zuvor hatte er für Montag den Generalstreik verkündet. »Aus diesen Gründen wird das ganze Land stillstehen.«