Avi Kalo ist überzeugt, dass die Befreiungsaktion der Israelis Noa Argamani, Andrey Kozlov, Almog Meir Jan und Shlomi Ziv aus der Gewalt der Hamas in die Lehrbücher sämtlicher westlicher Geheimdienste eingehen werde. Ohnehin sei Israel bekannt dafür, eine der besten Expertisen in diesem Bereich zu haben, »und diese Mission war heroisch«.
Gleichzeitig schränkt der ehemalige Leiter der MIA-Abteilung (Missing in Action) der IDF-Geheimdienstabteilung ein: »Nur Verrückte denken, wir können alle so befreien.«
Denn nach 21 Jahren, in denen er damit beschäftigt ist, Gekidnappte und Vermisste freizubekommen oder zu finden, weiß er genau, wie extrem komplex und gefährlich derartige Befreiungen sind – und wie schnell etwas schiefgehen kann. »Mit allem Respekt für die erfolgreiche Mission, es ist schlicht unmöglich, alle 120 Geiseln auf diese oder ähnliche Weise aus Gaza rauszuholen. Auf keinen Fall würde es bei jenen funktionieren, die in den Tunneln der Hamas festgehalten werden.«
Israel hat alles Recht der Welt, Staatsbürger zu befreien
Kalo ist zudem Rechtsexperte für Geisel-Situationen. »Aus juristischer Sicht ist es eindeutig: Israel hat alles Recht der Welt, seine Staatsangehörigen zu befreien.« Ganz besonders, nachdem die Terrororganisation Hamas wiederholt Entscheidungen zu einem Abkommen verzögert. Die Mission sei übrigens eine ausgetüftelte internationale Zusammenarbeit gewesen, bei der die USA und Großbritannien Geheimdienstinformationen mit Israel geteilt hätten.
»Die Aktion war auf jeden Fall auch ein Signal für unsere Feinde«, ist Kalo überzeugt. Allerdings würde die Befreiung der vier Geiseln in keiner Weise die strategische Situation für den Krieg zwischen Israel und der Hamas verbessern, »und ganz sicher nicht die Lage der noch verbleibenden Geiseln«. Denn natürlich werde auch die Hamas von der Aktion lernen, versuchen, die Schlupflöcher zu schließen und ihren Schutz weiter auszubauen. Umso dringlicher sei es, sich auf ein Abkommen zur Befreiung der verbleibenden Verschleppten zu verständigen, betont er.
»Sinwar kann sich zurücklehnen und sehen, wie Israel mehr und mehr an Legitimität in der Welt verliert.«
Avi Kalo
Dabei ist er nicht sonderlich zuversichtlich, ob in nächster Zukunft tatsächlich ein Deal Realität wird. Seinem Verständnis nach werde der Hamas-Anführer in Gaza, Yahiya Sinwar, nicht von seiner Forderung nach einem kompletten Ende des Krieges abweichen. »Da er sich um sein eigenes Volk in keiner Weise schert, kann er sich zurücklehnen und sehen, wie Israel mehr und mehr an Legitimität in der Welt verliert, beispielsweise durch den Internationalen Strafgerichtshof, die Proteste an den Universitäten und das Verhalten mancher Länder, etwa mit der Anerkennung eines Palästinenserstaates.«
Es sei Sinwar wahrscheinlich auch nicht sonderlich wichtig, ob er 120 oder 124 Geiseln festhält. Kalo geht davon aus, dass schon bald, vielleicht sogar in den nächsten Tagen, die Öffentlichkeit wieder mit grausamen Videos der Geiseln manipuliert werden soll. Und zudem, meint er, werde der Terrorchef langfristig Geiseln bei sich behalten wolle, um sein Überleben zu garantieren. »Sinwar will Israelis als menschliche Schutzschilde.«
Kalo ist überzeugt, dass die internationale Gemeinschaft mehr tun müsse: Zum einen sollten umfassende wirtschaftliche Sanktionen gegen die Hamas umgesetzt werden. Zum anderen stünde es der westlichen Welt gut zu Gesicht, an Israels Seite stehen. »Weil es nicht nur ein Kampf gegen eine Terrororganisation im Gazastreifen ist, sondern der Kampf gegen den globalen Dschihad.«
Gesellschaft zutiefst von extremistischer Lehre indoktriniert
Dass dies das Ziel der Hamas sei, sehe man an der Bevölkerung in Gaza, erklärt er: »Sie ist zutiefst und in allen Bereichen von der extremistischen Lehre der Hamas indoktriniert. Wir selbst waren geschockt, als wir feststellten, wie umfassend und verankert Hass auf alles Westliche, Antisemitismus und Fundamentalismus in der Gesellschaft tatsächlich sind. Doch das ist die traurige Realität nach den langen Jahren der Herrschaft der Hamas.«
Für die nahe Zukunft schlägt Kalo drei Schritte vor: Erstens müsse Jerusalem insistieren, dass der sogenannte Biden-Deal, der jetzt für einen Waffenstillstand und die Rückgabe aller Geiseln auf dem Tisch liegt, angenommen wird. Zweitens sollte Israel westliche Alliierte rekrutieren, um im Kampf gegen den globalen Dschihad mitzukämpfen. Drittens müsse mehr Druck auf Ägypten, Katar und andere bedeutende Spieler in der Region ausgeübt werden, um die Hamas zu beeinflussen. »Es ist sehr viel, was geschehen muss«, gesteht er, »aber es ist der einzige Weg nach vorn für eine friedliche Zukunft in unserer Region«.