Plakate werden eingerollt, Planen gefaltet, die Sofas abtransportiert. Auf dem Tel Aviver Rothschild-Boulevard, dem Gan Hasuss in Jerusalem, im Zentrum von Chadera und an
deren israelischen Städten haben am Anfang der Woche die Teilnehmer der sozialen Proteste begonnen, ihre Habseligkeiten zusammenzuräumen.
»Wir brechen die Zelte hoch erhobenen Hauptes ab«, macht Juval Bedolach, Sprecher der Studentenvereinigung, beim Einpacken deutlich. Nachdem am Samstagabend bei der größten Demonstration in Israels Geschichte rund 450.000 Menschen gegen die zu hohen Lebenshaltungskosten auf die Straßen gegangen waren, soll nun Phase zwei des zivilen Ungehorsams beginnen.
Bewegung Acht Wochen ist es her, dass die 25-jährige Studentin Daphni Leef aus Wut über die Wuchermiete ihrer Mini-Wohnung in Tel Aviv eine provisorische Behausung auf dem Rothschild-Boulevard aufbaute. Tausende im ganzen Land schienen nur auf ein derartiges Aufbegehren gewartet zu haben und schlossen sich ihr an.
Die Zeltbewegung entstand, die mit ihrem Schlachtruf »Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit« schon bald nicht mehr nur die hohen Wohnungskosten anprangerte, sondern das zu teure Leben generell. Bei riesigen Demonstrationen, die in Israel Seltenheitswert haben, forderten Hunderttausende nicht nur im Zentrum, sondern in Jerusalem, Beer Sheva, Aschdod, Nahariya, Kiriat Schmona, Eilat, Arad und Mizpe Ramon einen sozialeren Staat.
In den vergangenen zwei Wochen allerdings schien der Protestbewegung die Puste auszugehen. Überschattet durch Terroranschläge in Tel Aviv und der Nähe von Eilat sowie exzessiven Beschuss des Südens durch Bomben aus Gaza versammelten die Kundgebungen nur noch einige wenige Tausend Anhänger.
Die Supermärkte indes spürten noch die Wut der Bevölkerung. Umsatzeinbußen von fünf Prozent und mehr bei einigen Ketten, vor allem Schufersal, trieben den Betreibern die Schweißperlen auf die Stirn. Das Management von Schufersal erklärte daraufhin, dass sie die Preise von 30 Basisprodukten ihres Sortiments um 30 Prozent senken wollten und die Menschen im Gegenzug bitten, die Supermärkte nicht mehr zu boykottieren. Anführer der Protestbewegung antworteten mit Ablehnung: »Alles ist zu teuer. Wir lassen uns nicht mit lächerlichen 30 Sachen abspeisen.«
Vergangene Woche dann tauchten im ganzen Land gelb-schwarze Plakate mit dem Zeltsymbol auf. »Hem mewinim rak misparim« stand in fetten Lettern in der Mitte, »Sie verstehen nur Zahlen« – in Anspielung auf die Politik der derzeitigen Regierung um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, in der es ausschließlich ums große Geld gehe. Darunter die Zeile: Aufruf zum Marsch der Million am 3. September auf den Kikar Hamedina, »Platz des Staates«, in Tel Aviv.
Kikar Hamedina An normalen Tagen gehen hier die Superreichen einkaufen, parken die schwarzen Jeeps und Limousinen in zweiter Reihe. Der »Platz des Staates«, ist die teuerste Einkaufsmeile des Landes und Synonym für den ultimativen Kapitalismus: Prada-Taschen, Hermes-Tücher und Breitling-Uhren, die ein durchschnittliches Jahresgehalt kosten, liegen in den schimmernden Auslagen der Shops. Für alle sichtbar, für die wenigsten erschwinglich.
Gern decken sich die Wirtschaftsbosse an diesem Ort mit den neuesten Statussymbolen ein. Auch gegen jene Tycoons, die einen Großteil des israelischen Vermögens auf ihren Bankkonten versammeln, richtet sich die Wut der Menschen.
An diesem Abend ging hier niemand einkaufen. Stattdessen skandierten um die 350.000 Israelis einstimmig: »Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit«. Sternförmig strömten Junge und Alte, Paare, Familien mit ihren Kindern, Juden und Araber auf den überdimensionalen Platz im Zentrum von Tel Aviv, auf ihren Shirts, Hosen und Taschen klebten Sticker: »Israel ist uns (lieb und) teuer«. Sie hatten Trillerpfeifen dabei, Rasseln, Trommeln und Kochtöpfe.
»Sie haben gesagt, die Proteste seien tot«, rief Itzik Schmuli, Leiter der Studentenvereinigung, von der Bühne. »Schaut euch um, das nennt die Regierung also ›das Ende‹.« Unter dem begeisterten Jubel Tausender verkündete er: »Das hier ist erst der Anfang«. Die »neuen Israelis« würden nicht aufgeben, sondern kämpfen, bis die soziale Wende da sei.
Volk »Guten Morgen, Israel« hatte Schimon Sella auf ein Pappschild gepinselt, das er an einem Besenstil in die Höhe hielt. »Endlich sind wir aufgewacht«, erläuterte er. Der Familienvater hatte seine zwei Kinder mit Topfdeckeln und Kochlöffeln ausstaffiert, auf die sie mit sichtlichem Vergnügen eindroschen.
»Wir machen Lärm und begehren auf gegen das schweinische Verhalten der Regierung. Das Volk hat nach den Jahren der Ausbeutung durch sie und ihre Verbündeten in der Wirtschaft genug. Wir verlangen Gerechtigkeit, um würdevoll leben zu können.«
Die junge Familie Levy war ebenfalls dabei. Tomer und Maja pfiffen auf den Fingern, Söhnchen Shawn schlummerte trotz des Lärms in seiner Karre. Maja, im sechsten Monat schwanger, erklärte, dass sie ihr zweites Baby nicht mit drei Monaten in eine Krippe geben, sondern ein Jahr mit ihm zu Hause bleiben wolle.
»Das ist doch das Normalste der Welt. Aber in unserem Land können wir es uns nicht leisten, weil mein Mann und ich mit Hungerlöhnen abgespeist werden, die ein vernünftiges Auskommen gar nicht möglich machen. Deshalb sind wir heute hier.«
In Haifa verliehen fast 40.000 Menschen vor allem ihrem Wunsch nach jüdisch-arabischer Koexistenz Ausdruck. Auf dem Paris-Platz in Jerusalem hatten sich zur selben Zeit nach Polizeiangaben etwa 60.000 Menschen versammelt, gerechnet hatten die organisatoren ledlichlich mit der Hälfte.
Die bekannte Comedian Orna Banai sprach zu den Demonstranten: »Ich finde es überhaupt nicht komisch, dass Kinder hier Hunger haben müssen, dass ein Soldat seit fünf Jahren in Gefangenschaft verrottet, und dass Israel ein armseliges Beispiel für Menschenrechte ist.« Viele Männer und Frauen trugen T-Shirts mit dem Konterfei des entführten Soldaten Gilad Schalit und hielten Schilder in die Höhe, die seine Freilassung forderten.
Organisatoren Der Sprecher der Studentenvereinigung ist einen Tag nach den Massendemos sicher: »Wir mussten ein ganz spezielles Datum wählen, um die Zelte abzubrechen, und jetzt ist die Zeit.« Die Organisatoren versichern, dass dies nicht das Ende der Proteste bedeute, sondern das Gegenteil, der Aufbruch in eine Phase, in der langfristige Ziele gesteckt werden.
Auf den zentralen Plätzen der Städte sollen weiterhin regelmäßig Kundgebungen, Vorlesungen und Versammlungen abgehalten werden. »Die Regierung weiß, dass sie nach diesen Protesten nicht weitermachen kann wie bisher. Wir werden sie nicht lassen.« Man wolle jedoch zunächst die Ergebnisse des von der Regierung eingesetzten Komitees zur Lösungsfindung um Professor Manuel Trajtenberg abwarten.
Die Camps seien letztendlich nur Stangen und Planen gewesen. Ein Symbol, so Bedolach. »Doch dieser Kampf ist viel größer als jedes Symbol. Was wirklich zählt, sind die Menschen in den Zelten. Die waren gestern bei der Demo, und die werden auch zur nächsten kommen.«