Kein Seder war jemals so wie dieser. »Ma nischtana ha-Laila hase?«, fragen Juden am ersten Abend der Feierwoche in jedem Jahr. Doch diesmal wird vieles ganz anders – es ist Pessach in Zeiten der Corona-Krise, die fast die ganze Welt in den Ausnahmezustand versetzt.
Die Israelis befinden sich schon seit drei Wochen unter einer Quasi-Ausgangssperre, die nahezu das komplette öffentliche Leben lahmlegt. Straßen sind wie leergefegt, die meisten Geschäfte geschlossen. In die eigenen vier Wände darf man nur Personen lassen, mit denen man zusammenlebt. Also meist nicht einmal die eigenen Eltern oder Großeltern. Auch nicht an Pessach.
In die eigenen vier Wände darf man nur Personen lassen, mit denen man zusammenlebt.
Dabei ist Israel bekannt für seine großen Feste, wenn die weißen Tischdecken über Tapeziertische geworfen und Dutzende von Klappstühlen hervorgekramt werden. Es wird eingeladen, wer auch nur im Entferntesten bekannt ist. Oder gänzlich unbekannt.
Denn Fremde an Pessach zu verköstigen, ist eine Mizwa. Für viele sind die Vorbereitungen wie ein Wettbewerb voller Vorfreude: Wer rollt die meisten Mazzeknödel, wer stellt den dicksten Topf Hühnersuppe auf den Tisch, wer veranstaltet den größten Seder?
DACH Doch nicht diesmal. Der juristische Berater im Gesundheitsministerium, Uri Schwartz, erklärte, dass Pessach lediglich mit jenen Menschen begangen werden darf, die gemeinsam unter einem Dach leben. Für die Sabas und Saftas, die israelischen Großeltern, bedeutet dies oft, allein zu bleiben.
Wie Yaffa und Yaakov Arbel aus Raanana. Sie werden den Sederabend zu zweit verbringen, essen und die Haggada lesen, »weil es so großen Symbolwert hat«. Doch als Feiern könne man das nicht bezeichnen, meint Yaffa Arbel.
Jedes Jahr zelebriert sie Pessach mit der gesamten Großfamilie, mit Kindern und Enkeln bis zu entfernten Cousins, Nichten und Neffen. Je mehr, desto besser, lautete ihr Motto, wenn sie begann, das Frühlingsfest zu planen.
MISCHLOCHIM Bis vor wenigen Tagen dachte die 78-Jährige noch, dass sie zumindest mit ihren drei Kindern und vier Enkeln zusammen sein könnte. »Jetzt ist aber klar, dass das nicht geht.« Ihr Ehemann Yaakov leidet unter chronischen Herzproblemen und gehört damit zur Risikogruppe. Trotzdem will sie sich nicht der Trauer hingeben und sieht sich auch nicht als »arme, einsame Alte«.
»Mit dieser Beschreibung identifiziere ich mich so gar nicht«, sagt sie lachend und wird stattdessen aktiv. »Ich habe beschlossen, dass ich alle Speisen, die ich jedes Jahr zubereite, auch in diesem mache: Gefilte Fisch mit Meerrettich, Mazzeknödelsuppe, Zunge mit verschiedenen Beilagen und als Nachtisch Obstsalat aus Früchten der Saison. Und zwar in großen Mengen.«
Danach wird sie alles in Plastikschalen packen und im Auto bei den Kindern vorbeifahren, die den Seder allesamt innerhalb ihren Kleinfamilien verbringen. »Ich mache Pessach-Mischlochim.« Ihr Sohn ist ganz allein, denn seine amerikanische Lebensgefährtin steckt in den USA fest. »Allerdings wissen die Kinder noch nichts davon, sonst würden sie schimpfen, denn ich soll mich ihrer Meinung nach gar nicht mehr rauswagen. Aber Lebensmittel-Lieferungen sind ja erlaubt – und dabei gibt es schließlich keine Altersgrenze.«
KOST »Mischlochim« scheint die Parole für das Fest in den schwierigen Zeiten. Übersetzt heißt es »Lieferungen«, doch oft wird damit die heimische Kost der Mamme bezeichnet. Viele Israelis schicken Geschenke mithilfe von Kurierdiensten an ihre Liebsten, die sich in Quarantäne befinden.
Großveranstaltungen sind allesamt abgesagt. In Israels größtem Kibbuz Givat Brenner etwa kommen an Pessach Hunderte von Gästen zusammen. Hagit Portnoi arbeitet seit mehr als drei Jahrzehnten an der Organisation mit. »Und ich liebe es. Doch leider wird es nicht geschehen.« Es ist das erste Mal, dass der Seder in der 92-jährigen Geschichte der Kooperative abgesagt wird.
Statt sich persönlich zu treffen, werden viele Menschen zu Apps wie FaceTime oder Zoom greifen, um sich wenigstens digital etwas näher zu sein.
Statt sich persönlich zu treffen, werden viele Menschen zu Apps wie FaceTime oder Zoom greifen, um sich wenigstens digital etwas näher zu sein. Mehrere Rabbiner in Israel erlaubten ihren Anhängern, den Seder mit isolierten Familienangehörigen über das Internet zu verbringen. Allerdings nur als »Notfallmaßnahme«.
ZOOM Zoomen wird auch Sofia Reitz mit ihrer Familie. Sie ist ein »lone soldier« aus Costa Rica. Während ihre Eltern in der Heimat weilen, lebt die junge Frau in Herzlija oder in der Basis, wo sie ihren Armeedienst absolviert. »Eigentlich ist Pessach wundervoll«, beschreibt sie ihre Erinnerungen. »Obwohl wir weit weg von unseren Familien sind, haben wir immer einen ganz besonderen Seder.«
Denn jedes Jahr laden ihre Tante und Cousine in Hod Hascharon Freunde aus verschiedenen Ländern Südamerikas ein, die keine Familien in Israel haben. Auch die Gastgeber sind Olim Chadaschim.
»Sie kochen verschiedene Gerichte aus der Heimat, damit wir uns alle ein bisschen mehr wie zu Hause fühlen«, schwärmt die 22-Jährige. Doch in diesem Jahr ist die Ferne noch ferner als sonst. Denn die gesamte Pessachwoche muss sie gemeinsam mit drei anderen Soldaten in der Basis bleiben. Auch beim Seder.
Festessen Zum Glück gibt es neben den Schlafsälen eine voll ausgestattete Kochecke, lässt sie wissen. Dort wollen die vier für den Seder gemeinsam kochen und es sich dann richtig schmecken lassen. »Wir haben uns schon abgesprochen, dass wir es mit allem Drum und Dran, von Mazzen bis zum Festessen, so schön wie möglich zelebrieren. Wir wollen aus der wirklich schlimmen Situation das Beste machen.«
Allerdings, gibt Sofia zu, »werden wir unsere Familien in diesem Jahr sicher ganz besonders vermissen«.