Israel ist ein kompliziertes Land. Und deshalb müssen viele seiner Beobachter die Sachlage simplifizieren. Gut und Böse, Schwarz und Weiß, es wimmelt nur so von Vereinfachungen, die am Ende aber nichts bringen, weil sie die Komplexität der Probleme nicht erfassen und dann Vorurteile und Fehlinterpretationen kreieren. So auch das Klischee von Aschkenasim gegen Sefardim oder, wie Letztere in Israel genannt werden: Misrachim. Also der Antagonismus zwischen europäischstämmigen und orientalischen Juden.
Die Europäer seien die Elite, die »Orientalen« die Underdogs, die einen haben die Macht in der Hand, die anderen gehören zu den unteren Schichten der Gesellschaft, die »weißen« Juden wählen links, die »arabischen« Juden rechts, die Aschkenasim sind säkular, die »Orientalen« traditionell. Ein Gemeinplatz jagt den anderen. Und nichts stimmt, wenngleich ein bisschen schon, aber dann doch nicht wirklich. Nun, wie gesagt: Israel ist ein kompliziertes Land.
analyse Versuchen wir einmal ein paar falsche Vorstellungen hier in diesem zugegebenermaßen auch nur kurzen Artikel, der für eine tiefschürfende Analyse naturgemäß keinen Platz hat, zu korrigieren.
1. Aschkenasim wählen links. Das hat noch nie gestimmt. Seit den Anfängen des Staates hat es immer europäische Juden gegeben, die dem rechten Lager rund um Menachem Begin und den Lehren des Zeev Jabotinsky zuzuordnen waren. Im Gegenteil, immer mehr Aschkenasim wählen heute rechts, denn längst gibt es keine »Linke« mehr. Die Meretz-Partei ist bei den letzten Wahlen aus dem Parlament geflogen, die staatsgründende Arbeitspartei Awoda dümpelt bei minimalen vier Mandaten herum. Auch Aschkenasim wählen längst rechts, weil sie an die Träume und Versprechungen der Linken auf Frieden nicht mehr glauben, weil Palästinenser, der Iran, die Hisbollah und andere zunehmend extremistisch das Ende Israels wollen – und die aschkenasischen Israelis deswegen lieber an ein starkes Israel glauben, um zu überleben.
2. Misrachim wählen rechts. Ja, es stimmt, dass der Chef der Likud-Partei, Menachem Begin, 1977 die Wahlen gewonnen hatte, weil er die misrachische Wählerschaft für sich gewinnen konnte. Und seine Strategie funktioniert bis heute. Der wohlhabende, aschkenasische Benjamin Netanjahu verkauft sich seiner orientalischen Wählerschaft ebenfalls als Underdog, der von einer diffusen »Elite« verfolgt wird. Aber natürlich wählen auch viele Misrachim liberal oder gar links. Natürlich finden sich auch unter diesen Wählern etliche, die mit Netanjahu und der aktuellen Koalition nichts anfangen können, nichts anfangen wollen.
Für viele jüngere Israelis sind die Klischees
ein Ding von gestern.
3. Misrachim sind überall benachteiligt. Wer sich die Realität anschaut, wird schnell merken, dass dies so in vielen Führungspositionen nicht mehr stimmt. Ja, es hat noch keinen misrachischen Premier gegeben, dafür Staatspräsidenten, Minister, Generalstabschefs, Parteichefs, CEOs von Banken, Start-ups, Universitäten und vieles mehr. Die Eliten, die die Misrachim unterdrücken, gibt es heute nicht mehr wirklich.
4. Misrachim sind ungebildeter als Aschkenasim. Ja, es stimmt, dass misrachische Kinder oftmals vernachlässigt wurden. Schulen in reichen Gegenden waren stets besser ausgestattet als in armen Gegenden. Das betraf früher tatsächlich vor allem Misrachim. Aber längst ist dies nicht mehr der Fall. Es betrifft auch äthiopische Juden, die keine Misrachim sind, es betrifft viele Ex-sowjetische Juden. Doch inzwischen findet man unter den Intellektuellen, den Akademikern, den Hightech-Entrepreneurs immer mehr misrachische Israelis.
5. Aschkenasim hassen Araber weniger als Misrachim. Auch das stimmt nur bedingt. Ja, einerseits sagen viele Israelis mit orientalischem Background, dass sie die Araber besser kennen als die aschkenasischen Israelis, da sie ja einst unter ihnen gelebt haben, zumindest die ältere Generation. Andererseits sagen sie auch, dass nur sie wirklich Frieden mit den Arabern schließen könnten, schließlich kennen sie deren Mentalität besser als die Aschkenasim.
6. Stimmt alles, was oben geschrieben wurde, und es stimmt eben auch nicht. Denn, ja, inzwischen ist es offensichtlich: Israel ist ein kompliziertes Land.
7. Und dann kommt noch etwas hinzu: Immer mehr Israelis sind ein Mix aus aschkenasischen und misrachischen Vorfahren, denn vor allem jüngere Generationen geben nicht mehr viel auf diese Unterscheidungen und Trennungen. Sie heiraten, wen sie lieben, unabhängig davon, woher die Person stammt. Für sie sind die Klischees über europäische und orientalische Juden irgendwie ein Ding von gestern.
klischee Im Zweifelsfall entscheidet sich die Kultur in der Küche: Gibt es am Schabbat Gefilte Fisch oder Chraime zu essen? Was besser schmeckt – darüber aber streiten sich die Geister gern und fröhlich. Und machen dann selbst Witze, die das Klischee der Aschkenasim oder Misrachim bedienen.
Bis auf die Momente, wo die alten Spannungen zwischen den beiden Gruppen wieder aufbrechen – in der Politik. Weil viele Politiker die Vorurteile pflegen, um ihre Wählerschaft bei Laune zu halten. Und an sich zu binden. Natürlich. Was denn sonst.
Der Autor ist Publizist und lebt in Tel Aviv. Kürzlich ist von ihm »Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land« erschienen.