Global denken – lokal handeln. Dieser Satz könnte der Slogan von Yair Lapids derzeitiger Politik sein. In Erwartung des Besuchs von US-Präsident Joe Biden in Israel machte er auf Schönwetter in der Region. Der Nahe Osten formiert sich neu – und der neue Premierminister in Jerusalem macht mit. Seit Übernahme des Amtes setzt der Vorsitzende der Zentrumspartei Jesch Atid ganz auf die Stärkung der Verbindungen zu den Nachbarn.
Am Wochenbeginn telefonierte er mit dem jordanischen König Abdullah, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und Abdel Fattah el-Sisi, Präsident des Anrainers im Süden, Ägypten. Sie alle gratulierten Lapid zu seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten. Auch mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hatte er eine Unterhaltung am Telefon. Anschließend hieß es aus Lapids Büro, all dies spiegele die enger werdenden Beziehungen zwischen Jerusalem und seinen Nachbarn wider.
stabilität Und die entwickeln sich rasant. Zwar besteht der Frieden zwischen Ägypten und Israel bereits seit mehr als vier Jahrzehnten und sorgte für eine bedeutende Stabilität im Nahen Osten, von »freundschaftlichen Beziehungen« aber konnte lange Zeit keine Rede sein. Weder der einstige Präsident Hosni Mubarak noch el-Sisi rührten öffentlich die Werbetrommel für ein Auskommen mit den Israelis.
Bis jetzt. Oder besser gesagt, bis zum 15. September 2020, als die Golfnationen Vereinigte Arabische Emirate und Bahrain ihre Unterschrift unter ein Abkommen zur »Normalisierung der Beziehungen« mit Israel setzten. Später folgten Marokko und der Sudan. Diese Abkommen haben Substanz und Dynamik. Innerhalb eines Jahres bereits umarmten sich Politiker der Länder, die zuvor nicht einmal pro forma diplomatische Beziehungen unterhielten, und schlossen Hunderte von Vereinbarungen in Handel, Wissenschaften, Tourismus und anderen Bereichen ab.
Der Nahe Osten formiert sich neu – und der neue Premierminister in Jerusalem macht mit.
Den Wohlstand, den derartige Vereinbarungen mit sich bringen können, will natürlich auch el-Sisi. Mindestens ebenso wichtig ist die Verständigung in Sachen Sicherheit. Offenbar versteht man sich: Er und Lapid sprachen am Telefon über die regionale Bedeutung der Kooperation, den Besuch von Biden in Israel, den Palästinensergebieten und in Saudi-Arabien sowie die Notwendigkeit, die Spannungen mit den Palästinensern abzubauen.
Die beiden diskutierten auch über Möglichkeiten zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit aufgrund von Engpässen, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verursacht wurden. Durch den Mangel an Weizen sind die Brotpreise in dem bevölkerungsreichen Land am Nil gestiegen, und in der ägyptischen Gesellschaft brodelt es.
massengrab In einer wohlwollenden Geste versicherte Lapid dann, dass er Berichte prüfen werde, in denen behauptet wird, dass es in Zentral-Israel ein Massengrab ägyptischer Soldaten gebe. Laut einem »Haaretz«-Bericht seien Dutzende von ägyptischen Kämpfern, die im Sechstagekrieg von 1967 fielen, im Kibbuz Nachshon, westlich von Jerusalem, begraben worden. Die Geschichte wurde nie öffentlich.
Eine Quelle im Militär habe gegenüber der Tageszeitung Haaretz zugegeben, er sei derjenige, der gefordert hatte, dass die Veröffentlichung verboten wurde, weil die Enthüllung »für Aufruhr in der Region sorgen könnte«.
Danach aber sieht es nicht aus. Der Premier wies Militärsekretär Avi Gil an, die Geschichte zu untersuchen, und versprach, die Ägypter auf dem Laufenden zu halten. Dann vereinbarten Lapid und el-Sisi »ein baldiges Treffen«.
türkei Die Geschichte mit der Türkei ist eine andere. Einst waren die beiden Nationen engste Verbündete in der Region, flogen gemeinsam Luftwaffenmanöver, Israelis verbrachten zu Hunderttausenden ihren Urlaub unter der türkischen Sonne. Dann kam das Drama um die Flottille Mavi Marmara und mit ihm die diplomatische Eiszeit.
Vor einigen Monaten war es Erdogan, der die Aussöhnung suchte. Jetzt unterzeichnete man ein Zivilluftfahrtabkommen und besprach die Sicherheitskooperation gegen iranische Terrorzellen, die Angriffe gegen Israelis in der Türkei planen. »Die beiden Anführer betonten während des Gesprächs, dass die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei von großer Bedeutung für die Sicherheit, Wirtschaft und Stabilität des Nahen Ostens sind«, heißt es aus Lapids Büro.
Und sogar weit über die nachbarschaftlichen Grenzen gehen Lapids Annäherungsversuche hinaus. Mehr als einmal erwähnte er den Wunsch eines Friedens mit Saudi-Arabien. »Von Jerusalem aus wird das Flugzeug des US-Präsidenten nach Saudi-Arabien fliegen, und er wird eine Botschaft des Friedens und der Hoffnung von uns mitbringen.«
sicherheitsbeziehungen Die Ermutigung der arabischen Nationen, die Sicherheitsbeziehungen und die allgemeinen Verbindungen zu Israel zu stärken, sei eines der Ziele von Bidens Reise nach Israel und Saudi-Arabien, bestätigte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby. Das ist ganz in Lapids Sinn: »Israel wendet sich an alle Länder in der Region und fordert sie auf, Beziehungen zu uns aufzubauen und die Geschichte zum Wohle unserer Kinder zu ändern.«
Im Hintergrund aller Annäherungsversuche steht eine Agenda: Iran.
Im Hintergrund der Annäherungsversuche steht allerdings eine klare Agenda: der Iran. Lapid fordert die internationale Gemeinschaft unter Bezugnahme auf einen Bericht, wonach der Iran begonnen habe, neue Zentrifugen zur Anreicherung von Uran in der unterirdischen Fordo-Anlage einzusetzen, auf, unverzüglich Sanktionen gegen Teheran zu verhängen. »Israel seinerseits behält sich volle Handlungsfreiheit – politisch und operativ – im Kampf gegen das iranische Atomprogramm vor«, fügte er hinzu. Und da gibt es sogar unerwartete Verbündete.
Das ließ der ehemalige Sprecher der Freien Syrischen Armee und Oppositionspolitiker in Syrien, Fahad Almasri, jetzt wissen. Dafür allerdings müsse das Assad-Regime fallen. In einem Artikel schreibt er: »Der Abgang Assads wird das Rückgrat des iranischen Projekts in Syrien und der Region zum Einsturz bringen und kann zur Schaffung eines Friedens zwischen Syrien und Israel führen.« Die israelische Führung und die internationale Gemeinschaft sollten daher eher für neue strategische Partner in Syrien als für Assad bereit sein, so Almasri in Richtung Jerusalem.
strategie Er hat dafür bereits eine Strategie parat, schreibt er weiter: »Die Einrichtung eines regionalen Sicherheitsrates, eine arabische regionale NATO und eine Regionalstation für Sicherheit und Zusammenarbeit. Diese drei Schritte werden den Weg für eine regionale Wirtschaftsintegration bis hin zu einem gemeinsamen Markt im Nahen Osten am Beispiel der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ebnen.«
»Es sei eine Ära der Freundschaft und Kooperation«, hatte Lapid bei der Eröffnung der israelischen Botschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten vor etwa einem Jahr gesagt und frohlockt: »Der Abraham-Club ist offen für neue Mitglieder.« Vielleicht wird seine Einladung tatsächlich schon bald angenommen.