David Lee forscht an der medizinischen Fakultät der New York University und arbeitet einmal in der Woche in der Notaufnahme. Damit verfügt er über die seltene Möglichkeit, sowohl Zeit zum Nachdenken als Wissenschaftler zu haben als auch Coronavirus-Patienten zu behandeln. Bei allen Infizierten, deren Lunge versagte, beobachtete Lee dasselbe Phänomen: einen Sauerstoffmangel im Blut.
Eines Tages kam dem Arzt eine Idee: Könnte die sogenannte hyperbare Sauerstofftherapie dazu beitragen, dass Patienten nicht künstlich beatmet werden müssen und vielleicht sogar die Zahl der Todesfälle sinkt? Die Therapieform ist vor allem aus der Tauchmedizin bekannt: Patienten werden dabei in einer Druckkammer mit 100-prozentigem Sauerstoff versorgt. Die Kammer ähnelt der »Eisernen Lunge«, die einst zur Bekämpfung von Kinderlähmung eingesetzt wurde.
SKEPSIS Physiologisch erschien Lee die Möglichkeit sinnvoll, doch er stieß rasch auf Probleme. Denn in Teilen der Medizinwelt herrscht auch Skepsis gegenüber der Therapie, da einzelne Unterstützer diese lange als Allheilmittel anpriesen, ohne dass es dafür wissenschaftliche Belege gibt.
18 von 20 Patienten wurden wieder gesund und konnten binnen Tagen oder Wochen entlassen werden.
In den USA ist die Sauerstofftherapie laut Arzneimittelbehörde FDA nur für 13 Behandlungsarten zugelassen, etwa bei Verbrennungen, tiefen Wunden und Kohlenmonoxid-Vergiftungen. Die Behörde betont, dass sich Patienten nicht von Behauptungen im Internet täuschen lassen sollten, wonach die Therapie auch gegen Krebs oder Autismus helfe.
Angesichts der bisher geringen Erfolge im Kampf gegen Covid-19 wirbt Lee dennoch für mehr Offenheit, Versuche mit der Sauerstofftherapie wagen. Er konnte dafür seinen Kollegen Scott Gorenstein vom Winthrop Hospital der NYU auf Long Island gewinnen, der über zehn Jahre Erfahrung in dem Bereich verfügt.
FINANZIERUNG Beiden Männern war klar, dass sie vor großen Hindernissen standen – obwohl die Behandlung nicht-invasiv ist und als sicher gilt. Zu den größten Problemen gehörten die Frage der Finanzierung und die Überwindung der Skepsis, die durch Sauerstoff-Spas ebenso verstärkt wurde wie durch Videos von Prominenten wie dem Sänger Justin Bieber und dem Basketballstar LeBron James beim Gebrauch portabler Sauerstoff-Kammern.
Dennoch gelang es Lee und Gorenstein innerhalb von zwei Wochen, die Genehmigung für eine kleine Studie zu bekommen. Diese ermöglichte es ihnen, eine Gruppe von Covid-19-Patienten, die mit Überdruck-Medizin behandelt wurden, mit einer unbehandelten Kontrollgruppe mit ansonsten ähnlichen Voraussetzungen zu vergleichen.
In der Kontrollgruppe waren deutlich mehr künstliche Beatmungen, Todesfälle und langfristige Klinikaufenthalte zu beobachten.
Während der einmonatigen Untersuchung wurden 20 Patienten, vor allem Männer zwischen 30 und 79 Jahren, bis zu fünf Mal je 90 Minuten lang mit der sogenannten hyperbaren Oxygenierung behandelt. Laut Gorenstein führte der Aufenthalt in der transparenten Druckkammer bei fast allen von ihnen zu einem Nachlassen der Symptome.
SCHLÜSSE 18 der Patienten wurden wieder gesund und könnten binnen Tagen oder Wochen entlassen werden. Zwei starben, einer der Todesfälle führt zu einer Unterbrechung der Studie und einer Sicherheitsüberprüfung in der Klinik. Diese kam zu dem Schluss, dass die hyperbare Behandlung nicht der Grund für den Tod des Patienten war, wie Lee erklärt.
In der Kontrollgruppe waren deutlich mehr künstliche Beatmungen, Todesfälle und langfristige Klinikaufenthalte zu beobachten. Gorenstein und Lee betonten jedoch, dass die Studie, die in Kürze veröffentlicht wird, zu klein gewesen sei, um fundierte Schlüsse zu ziehen. »Was uns aus meiner Sicht gelungen ist, ist, zu zeigen, dass diese Therapie es verdient, in größerem Umfang untersucht zu werden«, sagte Gorenstein.
Die komplexe Natur von Covid-19, die Bandbreite an tödlichen Verläufen sowie die akuten und langfristigen Symptome stellen nach wie vor Forscher weltweit vor ein Rätsel. Angesichts der drängenden Suche nach wirksamen Behandlungsmöglichkeiten blieb für solide Studien bislang kaum Zeit. Anfängliche Hoffnungen auf einen Durchbruch durch das Malaria-Mittel Hydroxychloroquin oder das virushemmende Medikament Remdesivir zerschlugen sich rasch.
ÜBERDOSIS Hinter vielen Arzneimitteln stehen finanzkräftige Pharmafirmen – ein Vorteil gegenüber Sauerstoff- und anderen nicht-medikamentösen Therapien. Sauerstoff kann nicht patentiert werden, und auch der Einsatz der Druckkammern verspricht nach Angaben von Ärzten keine großen Profite.
In China wurde die Behandlung bereits einer Handvoll Covid-19-Patienten verabreicht, die Ergebnisse fielen vielversprechend aus.
Zu den größten Risiken der Therapie gehört der Transport der Patienten zur Druckkammer und zurück, je nachdem, wie schwer sie erkrankt sind. Offene Fragen gibt es auch bezüglich des Einflusses der Therapie auf Blutgerinnungsstörungen und möglicher Gefahren einer Überdosis an Sauerstoff.
Der Medizinprofessor Mitchell Levy von der Brown University sagt, sobald klinische Studien zur hyperbaren Oxygenierung vorlägen, sei diese einen Versuch wert. »Aber wir sollten vorsichtig sein, dass wir nicht aus Verzweiflung etwas verabreichen, das schädlich sein könnte, oder viel Geld für wirkungslose Therapien ausgeben«, mahnt der medizinische Direktor der Intensivstation des Rhode Island Hospital.
ISRAEL In China wurde die Behandlung bereits einer Handvoll Covid-19-Patienten verabreicht, die Ergebnisse fielen vielversprechend aus. Auch unter anderen in Israel, Frankreich und Italien sowie in mehreren US-Kliniken laufen Tests, Schweden plant eine Studie.
Lee betont, angesichts eines komplizierten Virus wie Corona sei es wichtig, Fragen zu stellen und aufgeschlossen zu bleiben. Die hyperbare Therapie sei möglicherweise nur ein Teil eines größeren Puzzles: »Sie wird nicht der Weisheit letzter Schluss sein.« dpa