Nach 50 Tagen heftiger Kämpfe sollen die Waffen schweigen. Am Dienstagabend haben Israel und die Hamas mit der Hilfe Ägyptens eine Feuerpause ohne zeitliche Begrenzung vereinbart. Kurz vor dem Inkrafttreten um 19 Uhr starben zwei Israelis durch palästinensische Raketen aus dem Gazastreifen, bei beiden handelte es sich um Familienväter. Die Zahl der während der Militäroperation »Protective Edge« getöteten Israelis stieg damit auf 70.
Eine der Voraussetzungen für den Waffenstillstand soll die Öffnung der Übergänge zum Gazastreifen für die Einfuhr von Baumaterial sowie humanitärer Hilfe und medizinischer Versorgung sein.
Die Hamas bejubelte das Abkommen als »Sieg«. Tausende von Menschen feierten in Gaza-Stadt bis tief in die Nacht, während sich die Anführer aus ihren Bunkern trauten und sich zum ersten Mal wieder in der Öffentlichkeit zeigten. In Israel ist die Stimmung derweil verhalten, niemand scheint dem »Frieden« zu trauen. Die Knessetabgeordnete Miri Regev von der Likud-Partei erklärte, die Israelis glaubten nicht an eine Vereinbarung mit der Hamas. »Die meisten sind sicher, dass die Terrororganisation die Pause nur zum erneuten Aufrüsten nutzt.« Damit man ein solches Abkommen ernst nehmen könne, müsse Israel eine komplette Entwaffnung des Gazastreifens verlangen, forderte Regev.
Umsiedlung Dieser Meinung ist auch die große Mehrheit im Süden des Landes. In den Tagen vor dem Waffenstillstand waren israelische Familien in Massen aus der umkämpften Region geflohen. Seit Anfang Juli wurde die Gegend fast pausenlos von der Hamas beschossen. 70 Prozent der Einwohner aus den Gemeinden in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen flüchteten, und nicht alle wollen zurückkehren. Allein 700 Familien beantragten in den letzten Tagen der Kämpfe staatliche Hilfe für eine langfristige Umsiedlung. Nach der Eskalation der Gewalt hatte die Regierung all jenen, die umziehen wollten, finanzielle Unterstützung zugesagt.
Idan Levi hat die Hilfe noch nicht beantragt. Doch auch sie will nicht mehr zurück in ihre Heimatstadt Sderot, das sei ihr in den letzten Tagen klar geworden. »Ich habe die Nase voll vom Leben unter Beschuss, ich will Ruhe für meine Familie.« Innerhalb weniger Wochen flüchtete sie drei Mal aus Sderot zu Freunden nach Tel Aviv, schlief mit ihrem sechs Monate alten Baby auf dem Sofa.
»Anfangs wollte ich nicht gehen, aber es war nicht auszuhalten«, resümiert die junge Mutter ihre Odyssee während des Krieges. Bei jeder Rückkehr dachte sie, dass nun Ruhe herrsche. Doch sie irrte. »Bis auf die wenigen Tage des ersten Waffenstillstands hörten die Sirenen kaum mehr auf. Ich habe praktisch in unserem Treppenhaus gewohnt. Einen Bunker haben wir ja nicht.«
So wie ihr ging es in den Tagen des Krieges auch Zigtausenden anderen Israelis. Mancher Ort im Süden des Landes gleicht noch immer einer Geisterstadt. Etwa der Kibbuz Nachal Oz. Die Kooperative ist nur zwei Kilometer von der Grenze entfernt. In der vergangenen Woche erlangte sie traurige Berühmtheit, als der vierjährige Daniel Tregerman von einer Mörsergranate der Hamas getötet wurde. 360 Menschen sind hier eigentlich zu Hause. In den letzten Tagen des Krieges war niemand mehr da. Auch die Eltern von Daniel machten klar, dass sie hier nicht mehr wohnen werden.
Bunker Chaim Yellin, der Vorstand der Eschkol-Region, in der die zwei jüngsten Opfer zu beklagen sind, erklärte, dass sich die Bewohner nicht sicher fühlten. »Es ist leicht, eine Entscheidung aus dem Bunker heraus zu treffen, wie die Hamas es getan hat. Vielleicht gibt es auch eine Waffenruhe in Jerusalem, wo sich die Menschen in Sicherheit wägen. Hier aber fühlen wir uns alles andere als sicher.«
Bei einem Besuch in der geplagten Region Anfang der Woche sagte sogar Sicherheitsminister Yitzhak Aharonovitch, dass all jene, die nicht unbedingt hier bleiben müssen, besser gehen sollten. »Sie sollen sich eine Atempause vom Beschuss der Hamas gönnen.« Gleichzeitig wurde von offizieller Stelle betont, es handele sich nicht um eine Evakuierung. Verteidigungsminister Moshe Ya’alon machte klar, dass es keine Empfehlung aus Jerusalem gibt, die Häuser zu räumen, die Regierung aber jene, die fliehen, verstehe und unterstütze. Dieser feine Unterschied in der Terminologie ermöglicht es der Regierung, nach dem Ende des Krieges umfassende Kompensationsforderungen abzuwehren.
Atempause Jael Stadin, Vorsteherin des Kibbuz Gan Haschloscha, floh mit Hunderten Leidensgenossen vor der nicht endenden Gewalt. Die meisten ihrer Gemeindemitglieder wohnen derzeit noch in einem Hostel in Jerusalem, organisiert von der Behörde für Krisenmanagement. »Uns wurde gesagt, wir dürften es nicht Evakuierung nennen, sondern nur Atempause. Doch es ist, was es ist. Wir haben den Kibbuz verlassen, weil es unmöglich war, dort zu bleiben«, erzählt Stadin. »Es ist wie russisches Roulette. Bleiben heißt, das Leben zu riskieren.« Viele andere Menschen aus dem Süden haben dank der privaten Hilfsbereitschaft von Kibbuzim und Moschawim im Norden Unterschlupf gefunden. Wie viele Mitglieder dauerhaft zurückkehren wollen, weiß Stadin nicht.
Idan Levi aus Sderot ist zwar erleichtert, dass ein Waffenstillstand erreicht wurde – dass er lange hält, daran glaubt sie allerdings nicht. Sie will langfristig nicht mehr in Sderot leben. Allein wegen der Sicherheit ihrer Tochter. »Die Waffen der Hamas sind tödlich, das haben wir ja leider erleben müssen. Wenn sie auch nicht sofort wieder fliegen, dann doch sicher irgendwann. Das hat uns die Vergangenheit immer wieder gezeigt. Warum sollte es denn jetzt anders sein?«