Knapp zwei Wochen nach dem letzten Schlagabtausch zwischen Israel und palästinensischen Terrororganisationen im Gazastreifen, bei dem mehr als 100 Raketen auf Israel abgefeuert wurden, scheint die Routine in den Süden des Landes zurückgekehrt zu sein. So herrscht in den Großstädten buntes Treiben, im Grenzgebiet wartet man weiter auf den nächsten Bombeneinschlag.
Jischai Avital ist vollauf zufrieden: »Die Schulen sind alle wieder auf, die Einkaufszentren proppenvoll«, sagt der Sprecher des Bürgermeisters von Beer Sheva, der größten Stadt im israelischen Süden, wo noch vor zwei Wochen Hunderttausende dazu angehalten wurden, sich in der Nähe von Luftschutzbunkern aufzuhalten. Der Raketenterror hat hier scheinbar keine Spuren hinterlassen. »Wir bauen unsere Projekte weiter: ein neues Sportstadion, ein Amphitheater, Parks und das Touristenzentrum ›Abrahams Brunnen‹, das endlich Touristen hierher locken wird«, frohlockt Avital.
Auch in Aschdod und Aschkelon, die weit näher am Gazastreifen liegen, erinnert kaum noch etwas daran, dass hier vor Kurzem regelrecht Krieg herrschte. Die Stadtverwaltungen haben die öffentlichen Bunker wieder geschlossen, damit sich Drogenabhängige dort nicht häuslich einrichten. Läden und Cafés sind voll wie ehedem.
Doch die Normalität ist oberflächlich. Zwar heulen keine Sirenen mehr auf, keine Explosion lässt die Fenster mehr erzittern. Dennoch trauen die Bewohner der Städte, die inzwischen bei jedem Schlagabtausch mit den Palästinensern zu Zielscheiben von Raketensalven werden, der Ruhe nicht: »Die Angst bleibt, sie begleitet einen ständig. Man hat das Gefühl, jeden Augenblick kann etwas passieren«, sagt Schachar Biton aus Aschkelon. Dabei ist die 27 Jahre alte Studentin das Leben unter Beschuss gewöhnt: »Ich lebe seit Jahren in dieser Region, mein Mann ist bei der Feuerwehr, also ständig auf Abruf bereit.«
bedrohung Doch ihre lässige Haltung hat sich verändert, seitdem vor vier Monaten ihr erstes Kind geboren wurde: »Wenn man ein Kind hat, ist alles schwerer. Wir verlassen unser Haus nicht mehr, aus Angst, von einem Alarm auf der Straße überrascht zu werden. Ich mache nur noch das Notwendigste.« Selbst Dinge, die sie vorher in Ruhe genießen konnte, erledigt Schachar heute eilig: »Ich bin sogar beim Stillen gestresst, denke ständig darüber nach, wie ich im Ernstfall am schnellsten zu einem Schutzraum komme.« Schachar würde am liebsten Aschkelon verlassen: »Tel Aviv ist uns aber viel zu teuer. Wir sitzen hier fest.« Vorerst plant das junge Paar einen Umzug in der Stadt: »Wir suchen jetzt eine Wohnung mit Bunker.«
So bedrohlich Schachars Alltag anmuten mag, erscheint er den rund 13.000 Bewohnern des Landkreises Eschkol rund um den Gazastreifen fast erholsam. Bei ihnen gibt es kaum einen Unterschied zwischen Eskalation und Ruhephasen, in denen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit anderen Krisenherden gilt: »Zwischen dem 1. August 2011 und dem 26. Februar, also der Zeit zwischen den zwei letzten Schlagabtauschen zwischen Israel und den Palästinensern, schlugen bei uns 56 Granaten und Raketen ein«, sagt Ronit Minaker, Sprecherin des Landkreises: »Zig Explosionen in sechs Monaten nennt die Welt ›Ruhephase‹.«
Solche Angriffe fordern meist keine Menschenleben. »Das hat viel mit Glück zu tun«, sagt Minaker und zeigt Bilder eines Raketeneinschlags nach Beginn der neuesten »Waffenruhe«, der ein Gewächshaus traf und Paprikas in Stücke riss. »Das könnten auch Menschenherzen sein. Nur durch Zufall befand sich in diesem Augenblick niemand dort.« Doch obwohl es nur selten Todesopfer gibt, sind die psychologischen Schäden groß: Hier, in nächster Nähe zum Gazastreifen, heulen die Sirenen oft erst auf, nachdem die Granaten bereits eingeschlagen sind. »So etwas wie Vorwarnzeit haben wir nicht«, sagt Minaker.
Trauma Scharon Kalderon vom Kibbuz Sufa und ihre beiden großen Kinder können mit dieser alltäglichen Bedrohung umgehen, doch ihr Jüngster kann sie nicht verarbeiten: »Vor vier Jahren schlug eine Rakete direkt neben seinem Kindergarten ein. Seither ist er nicht mehr derselbe Junge«, berichtet Scharon. Der Achtjährige könne »kaum schlafen. Jede Nacht muss sich ein anderes Familienmitglied neben ihm im Bunker schlafen legen. Er hat Wutanfälle, pinkelt in die Hosen. Er braucht psychiatrische Medikamente.«
Ihr Sohn kann sich eine Realität ohne Raketen nicht mehr vorstellen. Vergangenen Sommer flog die Familie nach Griechenland. »Seine Panikattacken begannen schon im Flugzeug. Als wir dann im Hotel ankamen, wollte er als Erstes wissen, wo der Bunker ist und wie sich die Sirene dort anhört.«
So etwas wie ein Eheleben kennt Kalderon nicht mehr: »Wir leben nur noch nebeneinander, kümmern uns nur um die Kinder.« Alle Aspekte des Alltags drehen sich um ihren Jüngsten, der unter einer besonders schweren Form von Posttraumatischem Stress-Syndrom leidet: »Er ist in der zweiten Klasse und kann nicht lesen, weil er sich nicht aufs Lernen konzentrieren kann.« Ihr Sohn sei zwar besonders stark betroffen, »aber außergewöhnlich ist sein Fall nicht«, betont Scharon.
Anders als ihr Sohn schlafen Scharon und ihr Mann im ungeschützten Schlafzimmer. »Im Bunker sind nur zwölf Quadratmeter Platz. Wir passen da nicht alle rein. Hauptsache, den Kindern geht es gut.« Eine Sache jedoch macht Scharon wütend: Seit Beginn der neuesten Waffenruhe schlugen in der Region bereits 15 Granaten und Raketen ein. »Die Weltpresse berichtet darüber nichts, selbst israelische Nachrichten melden nur lakonisch: ›Es gab keine Verletzten und keinen Sachschaden‹. Wie kann man so etwas als Routine hinnehmen?«