Ein warmer Herbstmorgen in Jerusalem. Der Himmel ist blau, der silberfarbene Metallmantel der Straßenbahn blitzt in der Sonne. Von explosiver Stimmung ist hier in der Fußgängerzone der Jaffa-Straße wenig zu spüren. Einzig ein paar mehr Sicherheitskräfte als gewöhnlich scheinen durch die Straßen zu gehen. Doch nur wenige Kilometer entfernt fliegen jede Nacht Steine und Brandbomben, liefern sich junge wütende Palästinenser Schlachten mit der israelischen Polizei.
Steine auf Busse und Straßenbahn, Molotowcocktails gegen Beamte und gewalttätige Ausschreitungen auf dem Tempelberg sind in diesen Tagen Routine. Jeden Abend müssen Spezialeinheiten in die Unruhegegenden von Ost-Jerusalem einrücken, um für Ruhe zu sorgen. Bis zum nächsten Tag.
Höhepunkt der Gewalt war der Terroranschlag auf Fußgänger am Wochenende, bei dem eine 22-jährige Frau und ein drei Monate altes Baby starben. Der Einzug einiger jüdischer Familien in das arabische Viertel Silwan vor wenigen Wochen wurde von vielen Arabern als Provokation gesehen und machte die Lage nicht einfacher.
Auf Drängen des Bürgermeisters Nir Barkat stellte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu jetzt 1000 zusätzliche Beamte ab, die die seit Juni immer wieder eskalierenden Unruhen in der Stadt zum Stillstand bringen sollen. Nicht alle sind von dem Konzept überzeugt. Einige Stimmen innerhalb der Sicherheitskräfte argumentieren, dass gerade die erhöhte Präsenz von Polizei oder Armee die Wut noch schüren könnte.
ausgehen Esti Dotan schaut sich vorsichtig um, bevor sie aus dem Light Rail, der Straßenbahn, aussteigt. Sie zögert, als sie ihre Füße auf das Pflaster setzt, hastet dann zum Gehweg. »Die Nachrichten vom Terroranschlag stecken mir noch in den Knochen. Am liebsten würde ich gar nicht mehr mit der Bahn fahren. Aber die ist viel schneller als der Bus, so kann ich morgens länger schlafen«, sagt die Jerusalemerin. »Aber ich weiß ja, dass es überall passieren kann. Eigentlich würde ich das Haus am liebsten gar nicht mehr verlassen.«
Eine Radioumfrage am selben Tag unter Taxifahrern in Jerusalem bestätigt das Bild. Die Menschen fühlten sich seit einigen Monaten unsicherer in ihrer Stadt, geben die Chauffeure an. Außerdem gingen sie seltener aus dem Haus, vor allem nicht, um Spaß zu haben. Die Taxiunternehmen würden das bereits an den Einnahmen spüren.
An diesem Sonntagvormittag sind die Cafés und Lokale der Jaffa-Straße auffallend schlecht besucht. »Alles Quatsch«, meint Mosche Farchi. Der Angestellte, der in der Neeman-Bäckerei auf seinen Frühstücksbagel wartet, hält nichts von Panikmache. »Klar, die Gewalt in der Nacht ist nicht schön, aber mit unserem Alltag hat das nicht viel zu tun. In Jerusalem geht alles seinen gewohnten Gang.« Gleichzeitig jedoch fordert Farchi den Bürgermeister auf, »endlich härter gegen die hirnlosen Chaoten vorzugehen«.
Wenige Hundert Meter weiter beginnt der Basar der Altstadt. Ein wenig düster liegen die Gassen, in denen alles feilgeboten wird, was das Touristenherz begehrt, von Schmuck über Bauchtanzkostüme bis zu duftenden Kräutern, Süßigkeiten, T-Shirts und jeder Menge Tand.
Ein Verkäufer im arabischen Teil möchte seinen Namen nicht nennen, zu viel Angst hat er anscheinend vor Repressalien. Zu sagen hat er dennoch etwas: »Wir leben von diesem Geschäft, von den Touristen, die durch den Basar schlendern. Und das nun schon seit drei Generationen. Doch das Leben wird immer schwerer. Die Touristen wollen sich sicher fühlen, sonst bleiben sie weg. Wir haben es satt, dass immer etwas los ist. Mal ist es die Regierung, mal sind es die Palästinenser, die die Unruhen starten. Und wer sind die Leidtragenden? Immer wir, die normalen Bürger, die einfach nur ihr Leben leben wollen. Wir haben schließlich Familien zu ernähren.«
Tatsächlich wirken manche Gassen auf dem Markt an diesem Sonntag fast wie ausgestorben. Ein paar kleine Reisegruppen spazieren an den Läden entlang, hauptsächlich aus Osteuropa, doch meist sitzen die Verkäufer gelangweilt vor ihren Läden auf kleinen Hockern, trinken Tee oder drehen die Gebetsketten in den Händen. Von pulsierendem Leben ist nichts zu spüren.
Im christlichen Viertel drücken sich die Menschen noch deutlicher aus. Ein Verkäufer des traditionellen Jerusalem-Geschirrs ist wütend wegen der monatelangen Unruhen in seiner Stadt: »Es sind doch Verrückte, die das immer wieder anzetteln. Ich will Frieden – für beide Seiten, mehr nicht.«
Verantwortung In den letzten Tagen haben sogar Schulen aus Tel Aviv Konsequenzen aus der Gewalt in der Heiligen Stadt gezogen und, nachdem Eltern interveniert hatten, Ausflüge verschoben. Die Tel Aviver Stadtverwaltung erklärte: »Wir akzeptieren diese Bitte der Eltern von Achtklässlern, da die Reise Ausflüge in Gegenden enthalten hätte, in denen es vor Kurzem zu Ausschreitungen gekommen ist«, machte jedoch klar: »Es gibt keine generelle Anweisung an die Schulen, nicht nach Jerusalem zu fahren.«
Michal Aschkanasi, Mutter von zwei Kindern aus Tel Aviv, die heute zu einem Geschäftstermin in Jerusalem unterwegs ist, versteht die Sorge der Schulen. »Ich finde diese Entscheidung nicht schön, aber verständlich. In erster Linie geht es doch darum, die Kinder zu schützen, denn es gibt ja keinen Anflug von Ruhe in der Stadt. Das ist wichtiger als jeder Nationalstolz.«
Die Vizebürgermeisterin Jerusalems, Rachel Azaria, indes kritisierte das Verhalten scharf. An die Tel Aviver gewandt, schrieb sie auf ihrer Facebook-Seite: »Ihr macht mich wütend! Denn Tausende von Kindern in Jerusalem gehen jeden Morgen ganz normal in den Kindergarten und in die Schule. Und wenn unsere Kinder ihre Routine beibehalten können, dann können eure Kinder das auch und sollten ihre Trips nach Jerusalem normal durchführen.« Routine sei schließlich eine der stärksten Eigenschaften der israelischen Gesellschaft, schrieb Azaria weiter. »Jetzt gibt es die Möglichkeit, Solidarität und Verantwortung zu zeigen.«