Draußen zeigt der Winter noch immer sein nasskaltes Antlitz. Die Mädchen haben trotzdem ein Grinsen im Gesicht. »Es macht so viel Spaß hier«, sagen sie, »ob es regnet oder nicht.« Lorine Chajet und Siwan Münz aus München, beide 17, bereiten sich an der Mossenson-Schule in Hod Hascharon auf ihr Abitur vor – auf Hebräisch.
Lorine lernt im zweiten, Siwan im dritten Jahr der Naale Elite Academy. Das Programm wird vom israelischen Bildungsministerium finanziert und umfasst Flug, Unterbringung und Verpflegung, Ausflüge, Monatskarten für öffentliche Verkehrsmittel, Krankenversicherung sowie ein kleines monatliches Taschengeld. Im ersten Jahr des dreijährigen Programms lernen die neuen Schüler 18 Stunden in der Woche Hebräisch. »Danach sind alle fit«, weiß Ofer Dahan, Direktor für den Bereich Westliche Welt bei Naale.
Untergebracht sind die Jugendlichen in den Schulen, in denen sie lernen – meist weitflächige Grünanlagen mit Wohnheimen außerhalb der großen Städte. Sie werden von Naale-Personal und ihren Klassenlehrern betreut. Außerdem haben die meisten Gastfamilien, »und die helfen so sehr«, sagt Siwan aus eigener Erfahrung. Viele haben selbst Familie im Land, wie Lorine, deren Großmutter hier lebt.
Geschenk Dahan ist vom Programm überzeugt. Seiner Meinung nach ist es ein großes Geschenk, mit unterschiedlichen Schülern gemeinsam zu lernen und zu leben. Tatsächlich kommen sie von überall her: In den Klassen der beiden Deutschen sind Jugendliche aus den USA, Norwegen, Brasilien, Polen, Spanien, Südafrika, Kenia und weiteren Ecken dieser Erde.
Naale als Programm für den jüdischen Schidduch? »Natürlich nicht«, betont der Direktor, »aber dies ist das Alter, in dem sich junge Leute kennenlernen und auch ineinander verlieben, das ist völlig normal.« Und dass sie allesamt jüdisch sind, wird gern in Kauf genommen. »Denn das größte Problem des Judentums in der Diaspora ist die Assimilation«, wie Dahan schnell hinzufügt.
Lorine und Siwan haben beide hier einen festen Freund gefunden. »Einen echten Israeli«, sagen sie und stupsen sich verschwörerisch an. »Obwohl, das gibt es ja gar nicht wirklich, sie sind alle mal von irgendwo hergekommen.« Ihre Eltern wissen davon und heißen es gut. Lorine glaubt sogar, dass sie sich richtig freuen, »dass mein Freund Jude ist«.
Alija Auch sei Naale nicht darauf ausgelegt, Menschen zur Alija zu bringen, versichert Dahan. »Niemand muss etwas zurückgeben, wenn er Israel wieder verlässt und in seine alte Heimat zurückkehrt.« Die Mädchen pflichten ihm bei: Es gebe »keine Gehirnwäsche oder so, man entscheidet völlig freiwillig, ob man in Israel leben will oder nicht«.
Die Zahlen sprechen ihre eigene Sprache. 85 Prozent aller Naale-Absolventen lassen sich hier nieder, verkündet der Experte nicht ohne Stolz. In ähnlichen einjährigen Programmen seien es gerade einmal 20 Prozent.
Lorine weiß noch nicht, ob sie in Israel leben möchte – dass sie hier zur Armee will, hat sie sich allerdings fest in den Kopf gesetzt. Naale unterstützt diese Entscheidung: Mädchen und Jungs, die den Militärdienst im Anschluss an das Programm absolvieren, bietet die Academy anschließend für drei Jahre ein kostenloses Studium an einer israelischen Universität.
In drei Naale-Jahrgängen befinden sich derzeit 1.200 Schüler aus aller Welt. Aus der westlichen Welt sind es 120 bis 150 pro Stufe. Doch Naale akzeptiert mitnichten jeden Bewerber. »Die Jugendlichen werden genau unter die Lupe genommen«, sagt Dahan. »Sie müssen einige Voraussetzungen mitbringen, Verantwortungsbewusstsein und große Lernfähigkeit etwa.« Doch nach ihrem Abschluss, weiß er, »haben wir wirklich die Besten der Besten«.
Noch ist es nicht so weit für die 17-Jährigen: Siwan bereitet sich gerade mit Hochdruck auf die letzten Abiprüfungen vor. »Die Zwölfte ist echt hart«, stöhnt sie und schultert ihre prall gefüllte Tasche. »Man muss die ganze Zeit nur lernen.« Fast jeden Tag drücke sie bis 17 Uhr die Schulbank. Auch für Lorine heißt es: Pauken ohne Pause. Ein Vorteil für die beiden ist, dass sie im Abitur ihr muttersprachliches Deutsch nutzen können und damit von insgesamt 18 benötigten Punkten fünf sicher haben.
Heimweh Die Mädchen sehen nur Vorteile, in Israel zur Schule zu gehen – fast. »Am Anfang habe ich viel geweint, weil ich unerträgliches Heimweh hatte«, erinnert sich Siwan. »Es war zwar schön hier, aber auch schrecklich, ich habe meine Familie so sehr vermisst.« Lorine pflichtet ihr bei: »Das ist richtig hart.« Doch die beiden haben einander – schon in Deutschland waren sie beste Freundinnen, kennen sich seit dem Kindergarten – und viele neue Freunde, die sie in Israel gewonnen haben.
Lorine lobt besonders den israelischen Unterricht: »In der deutschen Schule bin ich in der neunten Klasse sitzen geblieben, alles war extrem anstrengend, und ich hatte immer das Gefühl, dass die Lehrer nicht für, sondern gegen einen sind.« Siwan ging es ähnlich. »Jetzt helfen uns alle, geben uns eine zweite Chance, wenn etwas nicht klappt.« Offenbar geht das Konzept von Naale auf: 94 Prozent schaffen das israelische Abitur, das Bagrut, mit Bravour. Im Landesdurchschnitt sind es lediglich 60 Prozent.
Siwan und Lorine haben ihre Erfolgserlebnisse. »Lernen macht auf einmal Spaß. Wir alle von Naale sind total motiviert.« Früher sei sie etwa in Mathe eine echte Niete gewesen, erzählt Lorine und kichert. »Und hier habe ich fast 100 Prozent.«
Ob auch Siwan in Israel bleiben will, hat sie noch nicht entschieden. »Ich liebe Israel. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es für immer ist. Mir ist es in Deutschland auch gut gegangen. Ich habe nie Antisemitismus gespürt. Die Menschen waren in Ordnung.«
»Es ist ein komisches Gefühl«, sagt sie dann und schaut aus dem Fenster ins verregnete Grün der Schulanlagen, »irgendwie ist hier mein Zuhause – weit weg von meinem Zuhause«.