Sie findet es immer wieder wunderbar. Dass Israelis und Deutsche heute miteinander reden, Dinge unternehmen und sogar Freunde sein können. »Dabei ist der Holocaust erst 70 Jahre her. In geschichtlicher Hinsicht ist das doch praktisch nichts.« Die israelische Schriftstellerin Nava Semel sitzt an diesem sonnigen Tag in einem Café auf der Yehuda-Hamakkabi-Straße in Tel Aviv und trinkt frisch gepressten Karottensaft. Sie genießt die Gegenwart. Gleichzeitig ist die Vergangenheit für sie aber immer präsent. »Wie ein unterschwelliger Strom.«
Der nationale israelische Holocaust-Gedenktag am 28. April liegt zwischen Pessach und dem Unabhängigkeitstag. »Zuerst sind wir aus der Sklaverei ausgezogen, dann kam die absolute Katastrophe – und erst anschließend die wirkliche Freiheit«, erklärt eine, die das Erinnern als ihre Aufgabe ansieht. Auch am Jom Haschoa wird sie erinnern. Semel, eine der bekanntesten Autorinnen ihres Landes, spricht dann im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York zum Thema »Durch die Kunst über den Holocaust lernen«.
Gedenken Sie brauche zum Erinnern keinen besonderen Tag, macht sie sehr schnell deutlich. In Israel sei das Thema ohnehin ständig präsent. »Ob in der Politik, im Sozialen, in der Wirtschaft und allen anderen Bereichen. Es ist wie ein Geist des Gedenkens, der umherschwebt.« Sie selbst erinnert sich an 365 Tagen im Jahr. »Das ist Teil meines Widerstands und meines Trotzes.«
Im Moment arbeitet sie gemeinsam mit dem ungarischen Regisseur Janos Szasz und der israelischen Filmproduzentin Miki Zachar an der Verfilmung ihres Werkes Und die Ratte lacht, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. »Es ist wundervoll«, freut sie sich. »Natürlich hat ein Film für das Erinnern noch eine zusätzliche Qualität.« Im Buch geht es um die Geschichte eines kleinen Mädchens im Holocaust, die in fünf Abschnitten aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt wird.
Von Kritikern wird es als »äußerst wichtiges Buch« bezeichnet, doch in Deutschland war es schwierig, einen Verleger zu gewinnen. »Sie alle fanden es zu komplex«, erinnert sich Semel. Nur die kleine unabhängige Verlegerin Lisette Buchholz habe den Mut gehabt. Sie legte das Buch nicht nur auf, sondern versprach auch, es am Leben zu erhalten. »Sie hat das Werk nicht nur herausgebracht und die Restexemplare aufbewahrt, sondern es sogar als E-Book veröffentlicht. Das macht mich sehr glücklich.«
Deutschland In Israel war Und die Ratte lacht auch als Oper zu sehen, die lange Zeit ein großer Erfolg war. Fünf Jahre spielte sie ununterbrochen auf der Bühne des Kameri-Theaters in Tel Aviv und tourte durch die ganze Welt. Auch in Deutschland gab es Interesse. »Jemand kam und sagte, er wolle sie. Allerdings unter einer Bedingung«, erinnert sich Semel, »wenn ich das Kapitel mit der Zukunft streiche«.
Noch heute schüttelt sie darüber den Kopf. »Das ist so, als wollten sie sagen: ›Reicht es nicht, dass wir Deutsche mit dieser Vergangenheit und Gegenwart leben müssen? Wir wollen nicht auch noch die Zukunft dafür geben‹. Es ist ihnen zutiefst unangenehm, auch in der Zukunft daran erinnert zu werden.« Natürlich lehnte sie ab.
Genau so etwas nennt die Israelin »Regeln des Erinnerns«. Für Deutschland sei die Erinnerung an den Holocaust die Verkörperung des absoluten Dilemmas. Doch auch in anderen Ländern werde das Gedenken vorgeschrieben. Sogar in Israel. Sie kann und will dabei nicht mitmachen. »Meine Gedanken sind wild, ungehemmt und unzähmbar. So schreibe ich auch. Ich lasse mir das Erinnern nicht vorschreiben.«
Narbe »Dabei«, sagt Nava Semel mit Nachdruck, »schreibe ich gar nicht über den Holocaust, sondern über die Narbe der Schoa in der Familie. Es ist wie eine Nuklearbombe. Die Explosion ist zu Ende, doch die Radioaktivität ist noch immer da. Und das für eine sehr lange Zeit.«
Die 1954 in Tel Aviv Geborene ist Tochter von Holocaust-Überlebenden. »Mit all dem Schmerz, dem Schrecken und der Sprachlosigkeit. Meine Kindheit war sicher nicht leicht, doch ich habe dabei auch gesehen, wie die Überlebenden nach den grausamsten Erfahrungen ein wertvolles Leben geführt haben. Nach dem Zusammenbruch grundlegender menschlicher Werte und Strukturen haben sie in Israel genau das getan. Zehn Jahre nach der absoluten Katastrophe hatten sie Familien, Kinder und Jobs. Eine halbe Million Schoa-Überlebende rehabilitierte sich selbst, ganz ohne Psychologen, ohne Netzwerk. Davor ziehe ich meinen Hut, dessen will ich mit meinen Büchern gedenken.«
Nachdem die Menschen überlebt hatten, konnten sie ihr Leben nicht mehr als selbstverständlich hinnehmen, es musste eine Bedeutung bekommen. Davon ist Semel absolut überzeugt. »Solch ein Schicksal war sicher nicht von Lebensfreude geprägt«, weiß sie aus der eigenen Familiengeschichte. »Doch es war eine Entscheidung für das Leben. Und das in sich selbst war der Optimismus.«
Hoffnung Nava Semel erzählt von dem, was ihr selbst Hoffnung gibt. Eine dieser Erfahrungen ist nicht lange her. Als sie eine deutsche Freundin in Berlin besuchte, gingen die beiden in einen Park. Plötzlich blieb Nava stehen und sah ein Schild am Tor zum Spielplatz: Hunde verboten. »Und sofort dachte ich, dass da damals stand: ›Juden verboten‹. Ich konnte nichts dagegen tun.« Die beiden Frauen gingen hinein, und Nava schaukelte das Kind der Freundin. »Schau mal«, habe sie dann gesagt. »Bei den Nazis wären wir umgebracht worden. Ich, weil ich Jüdin bin, und du, weil du eine Jüdin mit deinem Kind spielen lässt. Und jetzt – jetzt ist das fast normal geworden.«
Sie zieht Optimismus aus den Begegnungen und Freundschaften mit Deutschen. »Ich will keine Rache, keine Abrechnung. Dann wäre ich begraben. Ich wähle das Leben – denn das ist der Triumph.«