Der Swimmingpool des Kibbuz Nahal Oz ist in diesen Tagen voller böser Überraschungen. Wo sonst die Kinder im Sommer planschen und die Älteren sich von der Hitze erholen, finden sich jetzt Raketensplitter. Eine Feuerpause besteht seit 8. August zwischen den verfeindeten israelischen und palästinensischen Nachbarn, die manchmal nur wenige Meter trennen.
Den vielen Drohungen des Islamischen Dschihad war die Operation »Morgengrauen« gefolgt. 1100 Raketen und Mörsergranaten wurden in Gaza abgeschossen. Viele zündeten fehl, 380 Raketen fing der »Iron Dome« ab, mit einer Trefferquote von 96 Prozent. Die Überreste abgeschossener Raketen fielen wie Regen vom Himmel und verdrecken die Grundstücke im Kibbuz.
luftangriffe Ausbaden müssen die traumatisierenden Folgen von Luftangriffen vor allem die Menschen im Süden Israels, die Bewohner des »Otef Aza«, des sogenannten Gaza Envelope. Dies bezeichnet die besiedelten Gebiete, die sich in einem Radius bis zu sieben Kilometern vom Gazastreifen entfernt befinden; so auch der Kibbuz Nahal Oz.
Von Negativschlagzeilen dominiert, verbirgt sich hinter dem Grenzgebiet ein paradiesisches Fleckchen Erde, wenn auch mit großem Gefahrenpotenzial. Allein 40 Raketenangriffe zwangen die Bewohner während der letzten Attacken, ihre Tätigkeiten zu unterbrechen und innerhalb von 15 Sekunden in einen Bunker zu flüchten. Jedes einzelne Haus in Nahal Oz hat einen Luftschutzkeller, selbst in den Innenhöfen ist alle 50 Meter einer auffindbar. »Wenn ein Angriff stattfindet, gehen die Familien mit Kleinkindern fort. Zurück bleiben die Älteren, die sich weigern, sich aus ihrem Zuhause vertreiben zu lassen«, erklärt der Sprecher des Kibbuz, Daniel Rahamim.
Vor 1987 besuchte man in Gaza noch Freunde und Geschäftspartner
Seit 1975 lebt er nur 80 Meter von der Grenze entfernt und ist in den nicht seltenen Gefahrensituationen für den Schutz der älteren Bewohner zuständig. Er selbst fand seine Wahlheimat durch die Nachal, eine Spezialeinheit der Israelischen Armee (IDF). Diese war in Zeiten der Staatsgründung 1948 geschaffen worden, um den Militärdienst mit der Landwirtschaft zu vereinbaren.
beziehungen Wehmütig erinnert sich Rahamim der guten alten Zeit, als man – wie er selbst – noch täglich nach Gaza fuhr. Wirtschaftliche Beziehungen und enge Freundschaften hatten die Israelis und Palästinenser verbunden. Auch auf Hochzeiten tanzte man gemeinsam. Dies sollte 1987 mit der ersten Intifada zu Ende gehen. Die Beziehungen zerbrachen über Nacht.
Auch die deutschstämmige Bewohnerin Tami Halevi würde sich nichts mehr wünschen, als ihre Kinder und Enkel im Dialog mit den Palästinensern zu sehen. Sie spricht über den Kibbuz wie von einem Ort, der zu 99 Prozent den Himmel und zu einem Prozent die Hölle repräsentiert.
Wenig Hoffnung verspürt sie, wenn sie an die Gewalt der vergangenen Jahre denkt sowie an den stetig zunehmenden Hass: »Unser aller Leben wäre einfacher, wenn es den Menschen in Gaza besser gehen würde. Aber wie Golda Meir so richtig sagte, gibt es Frieden, wenn die Araber und die Palästinenser ihre Waffen niederlegen. Aber wenn wir das tun, gibt es Israel nicht mehr.«
stille Umgeben von malerischer Landschaft und erholsamer Stille leben in Nahal Oz Alt und Jung über Generationen zusammen. Als Gemeinschaft betätigt man sich in der Landwirtschaft, der Kartoffelanbau, die Milchproduktion und die Hühnerhaltung stehen im Vordergrund. Ein Leben in der Stadt, ohne Sinn für Natur und sozialistische Strukturen, ist für viele nicht mehr vorstellbar.
Dafür nimmt man auch Kriege in Kauf. »Am Ende sehnen wir uns auf beiden Seiten nach Frieden. Wir verstehen einfach nicht, weshalb man hier als ganz normaler Zivilist in seinem Haus beschossen wird«, sagt Tami Halevi und schildert daraufhin die friedliche Ruhe, die schnell wieder eingekehrt ist. Aber auch die kommt ihrer Meinung nach einem Trugschluss gleich, weil die Kinderpsychologen in den Tagen der Feuerpause mit ihrer Arbeit kaum hinterherzukommen scheinen.
Neben der Ungewissheit, wie lange die Waffenruhe hält, sind alle Bewohner der Gegend von unterschwelligen Traumata befallen, die sich oft in Schlafstörungen und Konzentrationsschwächen äußern. »Es reicht schon eine Tür, die laut zuschlägt, und sie gerät in Panik«, sagt Daniel Rahamim über seine erwachsene Tochter. Hinzu kommt, dass die Entfernung nicht ausreicht, einen Raketenangriff durch eine Sirene rechtzeitig anzukündigen. Meist ertönt der Alarm erst nach dem Einschlag. Daran kann auch eine App wie »Red Alert« nichts ändern, die Israelis im ganzen Land informiert.
zusammenhalt Situationen wie diese sorgen unter den Menschen im Gaza Envelope für großen Zusammenhalt. Auch die in Hannover geborene Tamara Cohen kann sich für ihre fünfköpfige Familie kein besseres Leben als in dem Ort Ein HaBesor vorstellen. Als Frau, die seit Kindertagen die Großstadt und all deren Vorzüge kennt, die zwei Jahre lang in Amerika gelebt und nicht wirklich viel vom Leben in Gaza Envelope gewusst hat, habe sie hier sowohl Idylle als auch einen hohen Lebensstandard gefunden.
»Das liegt an den hervorragenden Schulen und einer sehr gebildeten Nachbarschaft. Man wächst hier nicht vor dem Fernseher auf, sondern ist viel draußen und lernt von der Community. 80 Prozent der Kinder wollen sich dafür nach der Schule revanchieren und arbeiten vor dem Militärdienst in einer sozialen Einrichtung«, erzählt sie voller Begeisterung. Wenn die Leute sie fragen, warum sie nach all den Kriegen noch in Ein HaBesor lebt, vergleicht sie sich mit einer New Yorkerin, die auch nach den Anschlägen vom 11. September nicht den Glauben an ihr Zuhause verloren hat.
Im Sinne von »Carpe Diem« macht man in Nahal Oz immer das Beste daraus.
Die Überlebenskünstler von Nahal Oz hatten bereits 2014 von sich reden gemacht. Während des letzten großen Krieges, der Militäroperation »Protective Edge«, suchten sie 50 Tage Schutz im Untergrund und verbrachten diese Zeit ohne Tageslicht. »Es fühlte sich an, als ob wir auf zwei unterschiedlichen Planeten lebten«, erinnert sich Kibbuz-Sprecher Daniel Rahamim.
sicherheitsraum Mit circa 80 anderen Mitgliedern verlebte er im gemeinschaftlichen Sicherheitsraum die längste Feier seines Lebens. »Die Frauen kochten, und gemeinsam machten wir Musik und tanzten tagein, tagaus. Irgendwann hörte ein Sänger von unserer Aktivität und besuchte uns, um dort unten nur für uns zu spielen«, sagt er.
Das ist lange her. Die letzte Militäraktion »Morgengrauen« liegt erst anderthalb Wochen zurück. Und den Pool in Nahal Oz hat man inzwischen gereinigt. Aus Anlass der Waffenruhe wurde auch zur Pool-Party geladen, zu der alle Mitglieder und vor allem die Kinder freudig kamen. »Falls spontan etwas passiert, stehen bei uns sechs Luftschutzräume bereit«, sagt Tami Halevi, »zusammen macht man hier im Sinne von ›Carpe Diem‹ immer das Beste daraus.«