Es sollte ein Tag voller Stolz und Freude werden: die Barmizwa von Yalli. Zum ersten Mal las er an diesem Donnerstag aus der Tora, worauf er sich monatelang vorbereitet hatte. Noch am selben Abend postete der Junge aus Tel Aviv auf Facebook: »Statt mit Bonbons überschüttet zu werden, saß ich eine Stunde im Bunker. Es fallen Bomben auf unsere Stadt.« Nach mehr als zwei Jahrzehnten gibt es wieder Raketenalarm in Tel Aviv. Die Hamas im Gazastreifen schießt nicht mehr nur auf den Süden, sondern hat nun auch die Metropole am Mittelmeer im Visier.
Als die ersten Sirenen am späten Donnerstagnachmittag im 15 Kilometer südlich liegenden Rischon Lezion schrillen, wissen die Menschen im Zentrum des Landes: Der Krieg ist da. Etwa anderthalb Stunden später dann Alarm inmitten von Tel Aviv. Zum ersten Mal seit dem Golfkrieg von 1991 müssen sich die Bewohner vor Raketenangriffen in Sicherheit bringen. Nach Militärangaben sollen zwei weitreichende Fajr-Raketen aus dem Gazastreifen im Meer niedergegangen sein. Und plötzlich ist es vorbei mit dem entspannten Lebensstil, für den die weiße Stadt so berühmt ist.
Schutz Statt Laissez-faire hasten die Städter in die nächsten Bunker, quetschen sich in Treppenhäuser und halten mit ihren Wagen auf den Autobahnen an, um in Straßengräben Schutz zu suchen. Obwohl die Bomben schon seit Tagen pausenlos auf den Süden regnen und seit Mittwoch halbstündlich Erklärungen zum Ernstfall im Radio laufen, sind die Tel Aviver überrascht.
Auch Margaret Lachower. »Das kam wirklich sehr plötzlich«, sagt die Mutter von zwei Söhnen, »und war schon ein Schock«. Nach der ersten Sirene aber ist sie vorbereitet, jede Sekunde in den Sicherheitsraum ihres Hauses zu eilen. »Eine gewisse Angst ist da«, gesteht sie. Panik hat sie nicht. Ihren erwachsenen Sohn aber, der am Abend auf eine Feier in Tel Aviv eingeladen war, hat sie gebeten, nicht zu gehen. Ansonsten ginge das Leben weiter – auch unter Beschuss. »Wir haben nach einer Weile sogar den Fernseher ausgeschaltet, weil man sich sonst schnell in etwas hineinsteigern kann«, erzählt sie vom Abend. Zur Ablenkung der Kinder hätten sie später DVDs angeschaut.
Lebensart Am ersten Tag der Bomben auf Tel Aviv scheint es, als hielten die Tel Aviver fast trotzig an ihrer unbeschwerten Lebensart fest. In der Nokia-Arena werden nach dem Ertönen des Alarms 10.000 Menschen zu einem Basketballspiel eingelassen. Im Notfall sollten sie die Köpfe zwischen die Beine klemmen, heißt es bei einer Durchsage. Im Nachhinein herrscht bei vielen Unverständnis darüber. Doch Sicherheitsexperten sagen, auf jeden Fall müssten Massenpaniken vermieden werden.
Auch private Feiern werden nicht unbedingt abgesagt. Viele Geburtstage, Bar- und Batmizwas im Zentrum finden statt. Doch eher surfen die Gäste mit ihren Smartphones auf den Nachrichtenseiten im Internet, als auf der Party zu tanzen. Bei Noams Batmizwa in Tel Aviv kommen statt den geladenen 150 Gästen nur 17. Was ein riesengroßer Spaß werden sollte, wird ein trauriger Abend mit einer in Tränen aufgelösten Zwölfjährigen im Abendkleid.
Verkehr Am Morgen herrscht nach einer relativ ruhigen Nacht zunächst scheinbar »business as usual«. Wie an jedem Freitag ist der Verkehr entspannt, die wenigsten müssen zur Arbeit. Wie gewöhnlich gehen die Leute einkaufen, ins Café oder eine Runde am Strand spazieren. Doch um 13.30 Uhr tönt es erneut durch die Straßen der Stadt: Bombenalarm. Wieder rennen alle in Richtung Schutzräume.
Hilith Paz ist genau in diesem Moment mit ihren Kindern auf der Stadtautobahn Ayalon unterwegs in Richtung Tel Aviv, als das Heulen ertönt. Sie fährt sofort auf den Standstreifen, schnappt ihre Sprösslinge und legt sich mit ihnen unter einen Busch. »Ein ganz schreckliches Gefühl ist das.« Nach dem Ende der Sirene dreht Paz um und fährt nach Hause ins sichere Netanja. Sie will kein Risiko eingehen.
Auch die Tel Aviver nicht. Obwohl das letzte Projektil nicht eingeschlagen sein soll, erklärt die Verwaltung nach dem Alarm, sie werde umgehend sämtliche Bunker und Sicherheitsräume öffnen. Am frühen Nachmittag leeren sich die Straßen zusehends. Tel Aviv bereitet sich vor – auf den Schabbat und mehr Bomben aus Gaza.