»Rak Bibi« steht an der Häuserwand. Schnell drangeschmiert mit schwarzer Sprayfarbe über einem bunten Graffiti. Der Aufruf »Nur Bibi« in Anlehnung an die Stimmabgabe für den Premier Benjamin Netanjahu ist eine Seltenheit im Tel Aviver Viertel Florentin, in dem sich Künstler, Touristen und vorwiegend Linkswähler an diesem sonnigen Wahl-Montag tummeln. Viele sind gekommen, um die Kunst an den Wänden zu bestaunen und den freien Tag für einen Ausflug zu nutzen.
Eisessen Itzik Malul ist aus Aschkelon mit seiner Frau und den beiden Kindern zum Eisessen hier. Er ist Sefarde und müsste nach eigener Auskunft eigentlich Schas wählen. Der ultraorthodoxen Partei werden acht Mandate vorausgesagt. Mit ihrem Vorsitzenden Arie Deri ist sie Teil der Koalition von Premierminister Benjamin Netanjahu.
»So machen es meine Eltern und meine sechs Geschwister schon immer«, gibt er zu und zuckt mit den Schultern. Die Maluls stammen aus Marokko und sind sefardische Juden. »Für meine Eltern gibt es nur Schas. Es würde ihnen niemals in den Sinn kommen, etwas anderes zu wählen«, so der 38-jährige Techniker. »Das war schon immer so und soll immer so sein.«
»Die letzten beiden Wahlen haben mir gezeigt, dass es denen an der Macht hauptsächlich um sich selbst geht.»Itzik Malul
Aber er habe die Nase voll. »Die letzten beiden Wahlen haben mir gezeigt, dass es denen an der Macht hauptsächlich um sich selbst geht. Deshalb habe ich zum ersten Mal etwas anderes gewählt. Blau-Weiß. Meine Eltern sind geschockt. Aber jetzt sind meine Frau und ich selbst Eltern und müssen für die Zukunft unserer Kinder entscheiden. Ich bin überzeugt, dass ein Machtwechsel dringend nötig ist.«
Stillstand Um 14 Uhr war die Wahlbeteiligung noch immer höher, als in den Jahren zuvor, obwohl es sich bereits um die dritte Wahl innerhalb von elf Monaten handelte. So lange herrscht politischer Stillstand in Jerusalem. Mehr als 38 Prozent hatten ihre Stimme abgegeben. Zuvor hatten Politiker ihre Sorge geäußert, dass die Angst vor dem Coronavirus die Menschen davor abhalten würden, an die Urnen zu gehen.
Vier Stunden später schickte die Leitung der Zentrumsunion Blau-Weiß eine Nachricht, dass sie eine dringende Telefonkonferenz einberufen habe, »weil die Wahlbeteiligung in Schlüsselorten von Blau-Weiß niedrig ist«. Man werde in den verbleibenden Stunden verstärkt vor Ort sein: Mosche Yaalon und Gabi Aschkenasi in der Scharon-Region, Vorsitzender Benny Gantz und sein Vize Yair Lapid in Tel Aviv.
Einen Tag zuvor war Ministerpräsident Netanjahu noch ausgiebig über den Machane-Yehuda-Markt spaziert, hatte Traditionsgerichte probiert und dauerhaft gelächelt, um die Unschlüssigen auf seine Seite zu ziehen. Viel Überzeugungsarbeit musste er hier nicht leisten. Jerusalem ist eine Hochburg der Likud-Wähler. Natalie Yaakov wohnt in der Siedlung Maale Adumim, die an Jerusalem angrenzt. Nicht aus ideologischen, sondern aus finanziellen Überlegungen. »Ich wähle Netanjahu.« Dabei gibt sie zu, den Premier nicht sonderlich zu mögen. »Seine privaten Handlungen finde ich unwürdig für einen Politiker, aber ganz ehrlich glaube ich, dass es für Israels Sicherheit im Moment keinen anderen gibt.«
Aktivisten In Tel Aviv stehen am Montagnachmittag Aktivisten der verschiedenen Parteien vor dem Wahllokal an der Lilienblum-Straße und sprechen die Passanten an. »Haben Sie schon gewählt?« oder »Sie müssen unbedingt wählen gehen.« Sie verteilen Aufkleber und Parteiprogramme. Innen laufen einige Kinder herum, während die Eltern in der Schlange stehen, um ihren Zettel in die blaue Pappbox zu stecken.
Ein älterer Mann mit Gehstock will seinen Namen nicht verraten, aber was er wählt, teilt er gern mit: »Rak Bibi – nur Bibi«.