Man muss schon sehr genau hinhören, um es zu bemerken. Doch dann lässt es einen nicht mehr los. Fast klingt es wie eine ferne traurige Melodie, die die Luft schwer werden lässt von Wehmut. Es ist das leise Wimmern einer jungen Frau. Sie lehnt an einer Wand, mit dem Rücken zum Raum, ihr Gesicht im Arm verborgen. Der schwarz-weiß geringelte Pullover schmeichelt dem Dunkel ihres Haares, der knielange Rock verhüllt mehr, als er sehen lässt. Die einzig wahrnehmbare Bewegung sind die kleinen Erschütterungen des Körpers, wenn die Frau tief einatmet. Dass sie denselben Namen trägt wie die Erzmutter, deren Beistand sie erfleht, ist nach ihrer Auffassung Bestimmung und Schicksal zugleich. Rachel. Sie ist gekommen um zu weinen. Jeden Tag. 40 Tage lang.
So will es die Tradition an diesem heiligen Ort. Wer an 40 aufeinanderfolgenden Tagen vor Rachels Grab betet, soll erhört werden – damit Wünsche fortan in Erfüllung gehen, persönliche Probleme und Schwierigkeiten verschwinden. Wer nicht selbst kommen kann, muss dennoch nicht auf himmlische Hilfe verzichten. An einem Schreibtisch, gleich hinter dem Eingang, sitzen zwei Männer, der eine ultraorthodox, der andere eher traditionell geprägt. Die beiden übernehmen diese Aufgabe gern für andere. Man nennt nur den eigenen Namen, den der Mutter und zahlt in bar. Für 35 US-Dollar oder 120 Schekel kann man für sich beten lassen. Reklamationen ausgeschlossen.
für Frauen In der kleinen Kammer des Frauenbereichs sind Stühle Mangelware. Kaum ist einer frei, wird er in Beschlag genommen. Und doch gibt es kein Gedrängel, kein Geschubse. Man verständigt sich ohne Worte. Benötigt jemand einen Platz, wird Augenkontakt hergestellt, der signalisieren soll: Ich möchte mich hinsetzen, bin müde, müde vom Weinen. Wie Rachel Isaac. Mit rotgeränderten Augen und zitternden Fingern blättert sie im Sidur, dem jüdischen Gebetbuch. Vor ihr steht der Sarkophag, ganz in blauen Samt gehüllt, mit hebräischen Schriftzeichen aus goldenem Garn bestickt. Eine überdimensionale Plastikplane schützt ihn vor den permanenten Berührungen der Pilger.
Auch Rachels Finger fahren immer wieder sanft über das Heiligtum. Sie will ihrer Vorfahrin so nah sein wie nur irgend möglich. Sie sei hier, weil sie sicher ist, dass »Rachel Emenu« ihre Schwierigkeiten verstehen und ihr helfen könne. »Es ist einer der wichtigsten Orte überhaupt für uns Jüdinnen. Bei Sorgen, die speziell Frauen betreffen, kommen alle. Meine Mutter, meine Schwestern, meine Tanten und meine Großmutter. Sogar meine Urgroßmutter war schon hier.« Sie selbst habe ein dringliches Problem und sei deshalb jeden Tag hier. Dabei hegt sie keinerlei Zweifel, dass ihre Gebete erhört werden.
tränen Das Grab von Jakobs Frau gehört zu den drei heiligsten Stätten im Judentum, gelegen zwischen Jerusalem und Bethlehem. Nach dem 1. Buch Moses ist Rachel auf dem Weg nach Bethlehem gestorben, als sie ihren Sohn Benjamin zur Welt brachte. Der Tradition zufolge stehen ihre Tränen in Zusammenhang mit fast jedem Schicksalsschlag, den das jüdische Volk zu überstehen hatte. Vor etwa 1.700 Jahren ist dieser Ort als Grabesstätte von Rachel identifiziert worden. Seit Generationen reisen fromme Juden an, um hier ihrem Herzen Luft zu machen.
Vor Kurzem erklärte die UNESCO, der kulturelle Zweig der Vereinten Nationen, das Grab Rachels zu einer Moschee. Verärgert hatten mit diesem Vorschlag arabische Staaten auf die Erweiterung der israelischen Liste »nationaler Heiligtümer« um das Grab und die Höhle der Patriarchen in Hebron reagiert. Beide liegen auf palästinensischem Boden.
Die UNESCO nahm die Empfehlung mit 44 zu einer Stimme an, zwölf Stimmberechtigte enthielten sich. Ab sofort wird die jüdische Stätte jetzt in ihrer Liste als »Bilal Bin Rabah-Moschee/ Rachels Grab« geführt. Die Erklärung: Sie sei integraler Teil der besetzten palästinensischen Gebiete, und jegliche unilaterale Aktion durch die israelischen Behörden werde als Verletzung internationalen Rechts angesehen.
Zeichen Danny Herman, Archäologe und Mitglied von Tagliot, dem israelischen Institut für Archäologie, ist entsetzt aber nicht verwundert. Es sei weder richtig noch fair. »Das Grab ist seit Jahrhunderten eindeutig ein jüdisches Heiligtum. Doch die UN will damit wieder einmal ein Zeichen in Richtung islamische Welt setzen. Dabei gibt es hier weder Moschee noch Minarett.« Dass sich das Grab auf einem muslimischen Friedhof befindet, ist zwar unbestritten, auch, dass Rachel sowohl für Juden als auch für Muslime und Christen eine religiöse Bedeutung hat. »Eine Moschee ist es aber ganz sicher nicht.«
Herman erklärt, dass es Tradition der Muslime ist, in der Nähe von jüdischen oder christlichen Orten eine eigene Betstätte zu errichten und das Gelände auf diese Weise »heiligzusprechen«. Beispiele gäbe es viele, etwa den Tempelberg in der Altstadt, auf dem nun der Felsendom steht. Oder den Silwan-Pool unweit der Stadtmauer. Bei Ausgrabungen im 19. Jahrhundert war hier eine Kirche entdeckt worden. »Und prompt wurde eine Moschee nebenan gebaut.«
kalkül Herman findet klare Worte für den Beschluss der UNESCO: »Es ist reines politisches Kalkül der Antragsteller, und leider macht die UN dieses Spiel mit. Ich denke sogar, dass es unterbewusster Antisemitismus ist.« Es gäbe Grenzen, die nicht überschritten werden dürften, dieser Entscheid aber gehe klar darüber hinaus. »Israel tut gut daran, den Kontakt zur UNESCO einzuschränken.«
Auch Premierminister Benjamin Netanjahu verurteilte die Entscheidung mit den Worten, dass es absurd sei, Israel von seinem kulturellen Erbe abzuschneiden. »Wenn die Orte, an denen die Mütter und Väter der Hebräer – Abraham, Jitzchak, Sara, Rivka, Lea und Rachel – vor 4.000 Jahren beerdigt wurden, nicht Teil des jüdischen Erbes sind, was dann?« Es sei unglücklich, dass eine Organisation, deren Aufgabe der Erhalt historischer Stätten in der ganzen Welt ist, versucht, das Judentum von seinem geschichtlichen Erbe zu trennen.
Aus politischen Gründen. Auch die Muslime hätten das Grab von jeher »Qubat Rachel« genannt, argumentiert Jerusalem. Der Name »Bilal Bin Rabah-Moschee« sei erst seit den Unruhen 1996 in Gebrauch und werde von den Palästinensern als Politikum missbraucht. Anders als seine Nachbarn wolle sich der Staat Israel weiterhin dafür einsetzen, dass alle Religionen an diesen heiligen Stätten beten könnten. Und dass sie geschützt werden.
Betonwände Eine gute Dreiviertelstunde dauert die Fahrt von der Zentralen Busstation Jerusalems zu Rachels Grab. Hat man die Stadtgrenze erst einmal hinter sich gelassen, sind es kaum mehr zwei Minuten. Wer jedoch, inspiriert durch einen altertümlichen Druck oder ein Foto, ein Gewölbe mit bröckelnden Mauern auf einem Stück Acker oder Friedhof erwartet, wird eines Besseren belehrt. Kurz hinter dem Hinweisschild »Kewer Rachel« geht es um die Ecke, und der Bus steht inmitten von sechs Meter hohen Betonwänden vor einem Schlagbaum.
Nach einer schnellen Inspektion durch einen israelischen Soldaten geht es weiter durch die Sicherheitsschleuse, inklusive Wachtürmen, zu einem kleinen Platz. Hier reckt ein einsamer Olivenbaum seine dürren Zweige in die Höhe, um noch ein wenig Licht zu erhaschen. Die Angst vor palästinensischen Scharfschützen, die fromeme Juden im Visier haben, hat Rachels Grab zu einem Hochsicherheitstrakt werden lassen.
Die Menschen, die hierherkommen, sind ganz unterschiedlich: jüdisch-amerikanische Touristen, ultraorthodoxe Juden, eine Frau, die um Hilfe beim Giur, dem Übertritt zum Judentum, bittet. Ein junges, religiöses Paar aus Frankreich ist da, sie trägt einen Säugling in einer Bauchtrage. »Dass Kewer Rachel eine Moschee sein soll, ist absurd«, sagt sie in Iwrit mit starkem französischen Akzent. »Die Leute von der UNESCO sollten sich hier einmal persönlich umsehen, dann würden sie merken, dass es nichts mit dem Islam zu tun hat und nicht ein einziger Muslim herkommt.«
Roter Faden Ein Mann in der traditionellen Kleidung der Charedim steht im Vorraum und hält den Besuchern ein rotes Bändchen hin. Für eine kleine Spende schneidet er ein Stück von der Wolle ab. »Gegen den bösen Blick«, murmelt er. Das Band, der Tradition der Kabbala folgend, soll angeblich sieben Mal um den Sarkophag gelegt worden sein und dadurch voll mystischer Energie der Erzmutter. Viele haben daher auch den roten Faden schnell um ihr linkes Handgelenk gewickelt.
Vor allem die Touristinnen aus dem Ausland. Eine Amerikanerin trägt zum züchtigen Rock und Pullover eine Chanel-Tasche, Flip-Flops mit riesigen Blumen und pinkfarbene Nägel an Händen und Füßen. Kurz berührt sie das Grab mit der Hand, geht dann einige Schritte zurück, Richtung Ausgang. »Ich besuche Israel jedes Jahr. Als Kind kam ich mit meinen Eltern zum Grab. Wenn ich selbst Töchter habe, werde ich sie auch mitbringen. Diese Erfahrungen gehören zu meinem Leben, so wie das Grab zum Judentum gehört.«
Feuchtigkeit In der kleinen Frauenkammer ist noch immer das Wehklagen der Jüdinnen zu hören, sind die Wände klamm von der Feuchtigkeit. Draußen, auf dem Platz mit dem Olivenbaum, wirft unterdessen der Bus seinen Motor wieder an. 45 Minuten hat er gewartet, jetzt macht er sich auf den Weg zurück nach Jerusalem. Der nächste wird erst in zweieinhalb Stunden kommen. Rachel sitzt nicht im Wagen. Sie bleibt, denn sie hat noch nicht genügend Tränen vergossen.