»Wir hatten eine harte Nacht«, seufzt Tamar Gerschoni. Die zweifache Großmutter trägt eine orangefarbene Weste. Auf deren Rückseite steht in grauen Buchstaben »Ordner«.
Dies bedeutet, dass sie momentan das Sagen über das Protestlager nahe der offiziellen Residenz von Benjamin Netanjahu hat. Seit fast 50 Tagen campieren an der Balfour-Straße in Jerusalem Gegner des israelischen Ministerpräsidenten, zuletzt waren es etwa zwei Dutzend.
solidarität Matratzen stehen ordentlich aufgereiht an einer Mauer aus Kalkstein, Gartenpavillons bieten Schutz vor der Sonne. Für die nächsten 24 Stunden ist es Gerschonis Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Bürgersteig nicht zugestellt wird und sauber bleibt. Eine Passantin bringt den Demonstranten Wassermelonen vorbei. Manch Autofahrer hupt aus Solidarität, aus anderen Autos schallen aber auch Rufe wie »Nur Bibi!«. »Bibi« ist der Spitzname Netanjahus.
Mit der Protest-Beschaulichkeit ist es zuletzt häufig vorbei. Die »Dauer-Camper« erhalten inzwischen regelmäßig Unterstützung von Tausenden Demonstranten – während parallel dazu in ganz Israel Tausende weitere Menschen auf die Straßen gehen.
Vergangenen Samstag waren in Jerusalem etwa 10.000 Bürger dem Aufruf zur Demonstration gefolgt, vor allem junge Menschen.
Vergangenen Samstag waren in Jerusalem etwa 10.000 Bürger dem Aufruf zur Demonstration gefolgt, vor allem junge Menschen. Bis in die Nacht blieb alles friedlich, dann setzte die Polizei Wasserwerfer gegen Protestler ein, die sich weigerten zu gehen. Am Samstag ist die nächste Kundgebung gegen Netanjahu geplant.
kritik Der Ministerpräsident steht seit Wochen unter Druck, der Unmut der Bürger wächst: Wurde er zu Beginn der Corona-Pandemie noch für sein Krisenmanagement gelobt, sieht sich Netanjahu mittlerweile starker Kritik ausgesetzt.
Verhängte Einschränkungen werden von vielen Bürgern als inkonsistent, willkürlich und ungerechtfertigt betrachtet. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen einer ersten Lockdown-Phase sind immens. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als 20 Prozent. Zum anderen läuft ein Gerichtsprozess gegen den Regierungschef. Er ist wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit angeklagt.
»Auf keinen Fall werden wir zulassen, dass der erste amtierende Ministerpräsident in der Geschichte Israels, der sich in einem Prozess verantworten muss, im Amt bleibt«, sagt Gerschoni. »Auf keinen Fall« – das ist das Motto des Protests. Es steht auf Gerschonis Weste. Andere Protestler tragen es aufgedruckt auf schwarzen T-Shirts. Die Proteste gegen den Politiker werden vor allem von der Bewegung »Schwarze Flaggen« organisiert.
anarchie Der Ärger der Netanjahu-Gegner ist zuletzt deutlich größer geworden. Auslöser sind die jüngsten Angriffe auf Demonstranten in Tel Aviv und Äußerungen von Israels Polizeiminister Amir Ochana, ein treuer Gefolgsmann des Ministerpräsidenten. Er bezeichnete die Proteste als »Corona-Brutstätten«. In einem von einem TV-Sender aufgezeichneten Gespräch sagt er zu Jerusalems Polizeichef, er wünsche sich, das Gerichtsurteil anzufechten, das das Protestlager an Netanjahus Residenz erlaubt. Diese Anarchie könne so nicht weitergehen.
Der Ärger der Netanjahu-Gegner ist zuletzt deutlich größer geworden.
In einem Interview warnt Ochana auch vor Morddrohungen gegen Netanjahu. Unangenehm für den Regierungschef: Wenige Tage nach diesem Interview teilt Netanjahu bei Twitter eine auf Facebook veröffentlichte Morddrohung gegen sich. Nach der Recherche eines Journalisten jedoch wird klar: Es handelt es sich um einen Fake-Account.
»Es ist erlaubt, zu demonstrieren. Aber es ist nicht erlaubt, gegen den Ministerpräsidenten aufzuwiegeln«, mahnt Nadav Tibi – kurz bevor die Facebook-Geschichte bekannt wird.
unterstützer Der 36-Jährige bildete zuletzt mit nur einem Mitstreiter ein Camp von Netanjahu-Unterstützern in einem nahe der Balfour-Straße gelegenen Park – direkt neben einem weiteren Lager von »Bibi«-Gegnern. »Der Unterschied zwischen denen und uns: Sie sind zu Tausenden auf den Straßen. Wir waren Tausende in den Wahllokalen.« Netanjahus Likud-Partei war bei der Wahl im März stärkste Kraft geworden. Ihre Umfragewerte sanken aber zuletzt.
Das reicht Tamar Gerschoni, der zweifachen Oma, aber nicht. Sie will den Protest an Netanjahus Residenz fortsetzen – und das, obwohl sie bei der Demonstration am vergangenen Samstag von einem Wasserwerfer am Kopf getroffen wurde. »Wir werden hier bleiben, bis unser Ministerpräsident mit seinen drei Anklagen den Posten räumt.«