Der erste Anruf kam um 8.12 Uhr deutscher Zeit und begann mit den schmerzhaften, aber leider bekannten Worten »Bevor du gleich die Nachrichten liest ... «. Es ist Schabbes-Morgen in Berlin, das Ende von Sukkot. Das Aufwachen war friedlich, warm, verschlafen, gleich sollte es Frühstück geben. Doch nach dem Telefonat und dem Blick ins Netz ist die jüdische Welt eine andere.
Auch wenn dieser Satz in seiner drastischen Bedeutung durch zu häufigen Gebrauch abgenutzt scheint, trifft er das, was die Nachrichten zeigen, auf den Punkt: Das Land der Juden, der einzige sichere Hafen in einer zunehmend unsicheren Welt, ist in einer groß angelegten Hamas-Aktion überfallen worden. Hunderte Terroristen ziehen marodierend durch israelische Ortschaften, sie erschießen, erschlagen, verbrennen, vergewaltigen, entführen Israelis, und bis zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels sind sie immer noch auf israelischem Boden.
whatsapp-gruppe Über die Mischpacha-WhatsApp-Gruppe werden die Lebenszeichen der Familie in Israel gecheckt. Der Onkel in Sderot sitzt seit sechs Stunden im Schutzraum, die Tante in Kfar Aza auch. Sie musste mit anhören, wie Terroristen durch ihr Haus gehen und versuchen, die Miklat-Tür zu öffnen. Bald werden wir erfahren, welches Glück sie hatte. Mindestens vier Kfar-Aza-Bewohner wurden nach Gaza verschleppt.
Die Medien ziehen schnell Vergleiche zum Jom-Kippur-Krieg, als Israel vor genau 50 Jahren den Überraschungsangriff arabischer Armeen knapp, aber erfolgreich zurückschlagen konnte. »Das hier ist ein Pogrom«, sagt meine Schwiegermutter, die gerade ihren ersten Sohn geboren hatte, als der Jom-Kippur-Krieg begann. Eine Frau, die so stark ist, wie sie fragil aussieht.
Die Frage, die dem kollektiven Schock folgt, lautet: Wie ist das überhaupt möglich? Wo war Zahal? Später erfahren wir, dass die Eingeschlossenen stundenlang vergeblich auf Hilfe gewartet haben.
cyberangriffe Um etwa halb elf werden wir vor Cyberangriffen über WhatsApp und SMS gewarnt. Fotos und Videos würden verschickt, um Mobiltelefone zu infizieren. Im Laufe des Tages kursieren Video-Clips aus den überfallenen Kibbuzim und Städten im Netz, die Unfassbares zeigen. Bald erlebe ich zum ersten Mal, dass meine Schwiegermutter die Fassung verliert.
Der Schock sitzt so tief, die Angst ist so groß. Das ist anders als alles, was Israel bisher erleben musste.
Wir suchen seit dem Morgen nach Flügen. Die Airlines beginnen, sie zu streichen. Die Mutter sagt zu ihrem Sohn, dass es sie beruhigt, uns in Sicherheit zu wissen. Natürlich schlägt die Familie alle Angebote aus, zu uns zu kommen. »Dann müsste ich ganz Israel mitnehmen«, sagt sie. 700 Tote, mehr als 2200 Verletzte, möglicherweise mehr als 100 Entführte, so der Stand am Sonntagabend.
Am Samstagnachmittag läuft die israelische Militäraktion »Swords of Iron« an, und ich fasse es nicht, dass deutsche Medien so ignorant sind, den Plural nicht zu übersetzen. »Eisernes Schwert« steht da. Nicht ein Schwert, denke ich, viele! Die größte Stärke Israels ist, dass die Menschen in Zeiten der Not zusammenfinden, egal, welche Politik sie vorher auseinandergetrieben hat.
blutspenden So hat denn auch die Protestbewegung gegen die rechte Regierung Netanjahu die Demonstrationen abgesagt, um das zu tun, was Israelis ausmacht: einander helfen. Aus dem Süden Evakuierte aufnehmen und versorgen, Soldaten zu ihren Basen fahren, Blut spenden. Die Schlangen vor den Spendestationen sind so lang, dass man stundenlang warten muss, erzählt mein Schwager.
Der Schock sitzt so tief, die Angst ist so groß. Das ist anders als alles, was Israel bisher erleben musste. Wir wissen nicht, was kommt. Wir können nur vorbereitet sein und füreinander da sein.
Die Welt muss endlich verstehen, mit wem wir es zu tun haben, wenn sie das nächste Mal über Gaza berichtet. Und Deutschland kann all seine Versprechen einlösen und helfen, wo es kann.