Wie man es richtig benutzt, zeigt er nicht, sondern sagt nur knapp: »Schau auf YouTube nach.« Udi Mizrachi, der in seinem Farbenladen an der Allenby Street in Tel Aviv auch Artikel zur Selbstverteidigung verkauft, ist überrascht über den Ansturm. »Ich bin seit drei Tagen ausverkauft. Alle wollen Pfeffer- und Tränengasspray, und wir bekommen keine neuen Lieferungen mehr.«
Vielen Israelis sitzt die Angst im Nacken. Seit Tagen dominiert der Terror den Alltag. Mit grausamer Regelmäßigkeit laufen die Horrornachrichten ein: Bei Attacken in Jerusalem zwei Menschen getötet, zwölfjähriger Junge durch Messerstiche lebensgefährlich verletzt, Soldatin absichtlich überfahren, Anschlag im Herzen von Tel Aviv. Kein Tag, an dem nicht mindestens ein blutiger Anschlag eines Palästinensers die Menschen schockiert.
Auch Selbstverteidigungskurse haben Konjunktur. Ob Krav Maga oder spezielle Kurse für Frauen, Studios und Privatlehrer können sich vor Anmeldungen kaum retten. »Was sollen wir sonst tun?«, meint eine junge Amerikanerin, die vor einem Jahr Alija gemacht hat. »Ich habe immer an das Zusammenleben zwischen Arabern und Juden geglaubt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob das noch möglich ist.«
Pistole Israel Cohen hält ohnehin nichts von Koexistenz. Er ist sicher, dass die Mehrheit der Araber den Terrorismus zumindest gutheißt, und sieht in der palästinensischen Führung den Feind. »Und der muss hart bekämpft werden. Ich bin dafür, das komplette Westjordanland abzuriegeln, bis Ruhe einkehrt. Sollen sie sich gegenseitig abstechen.« Außerdem meint der Pensionär aus Tel Aviv, die Regierung sollte für jedes Attentat eine neue Siedlung bauen. »Dann verstehen sie, dass sie so nichts erreichen.«
Cohen hat eine Lizenz für eine Waffe. Normalerweise lag die in der Schublade zu Hause. Jetzt steckt sie im Halfter an seiner Jeans. Verteidigungsminister Mosche Yaalon und der Jerusalemer Bürgermeister Nir Barkat haben alle Waffenbesitzer in Israel aufgerufen, ihre Pistolen zu tragen. »Wenn die Politiker das schon sagen«, meint Cohen und tätschelt das Metall am Hosenbund, »gehe ich sicher nicht mehr ohne Waffe raus.«
Andere versuchen, der Furcht mit Humor zu begegnen. Facebook, Instagram und Co. werden mit makabren Bildern und Witzen überschwemmt. »Die neue Winterkollektion von Castro ist da«, schreibt eine Userin unter das Bild einer schusssicheren Weste. Ein anderer postet ein Foto von sich mit Messer zwischen den Zähnen und Baseballschläger in der Hand unter dem Titel: »Auf dem Weg zur Mülltonne«. Doch vielen bleibt das Lachen im Halse stecken, wenn der Post über die nächste Messerattacke auf dem Bildschirm erscheint.
Slogans Die Anschläge machen nicht nur traurig, sondern schüren bei einigen blanken Hass. Als das Moderatorenteam Orly und Guy in ihrer Fernsehtalkshow meint, dass man Attentäter nicht sofort erschießen sollte, weil man mehr über die Hintergründe der Tat erfahren würde, wenn man sie am Leben ließe und festnähme, werden die Journalisten von Tausenden verbal verdammt.
Einer, der dagegen hält, ist Rony Edri mit seiner Facebook-Kampagne gegen Gewalt und Hass unter dem Hashtag #notinmyname. Die Aktion kommt an. Menschen aus Israel, dem Westjordanland, dem Rest der Welt und sogar Gaza senden Fotos von sich mit dem Slogan auf der Hand.
Viele fühlen sich hilflos angesichts der Attentate, die jeden zu jeder Zeit an jedem Ort treffen können. »Bei den beiden Intifadas wusste man mehr oder weniger, was man zu tun hatte. Wir fuhren nicht mit dem Bus und hielten uns von Menschenmengen fern. Auch im Krieg gibt es klare Anweisungen«, sagt Gila Ben-Mosche, als sie ihr Enkelkind aus dem Kindergarten in Jaffa abholt. »Aber jetzt ist das anders. Ich schaue mich ständig um, werde schon langsam panisch. Aber was sollen wir tun – nicht mehr auf die Straße gehen?«
Tatsächlich halten viele Israelis das für das Richtige. Auf den Märkten in Jerusalem und den arabisch geprägten Städten Akko und Nazareth, wo sich sonst die Käufer tummeln, herrscht ungewöhnliche Leere, sogar in Tel Aviv sind die Cafés und Bars nicht so gut besucht wie sonst. Die Umsätze seien in Jerusalem teils um die Hälfte zurückgegangen, geben Händler und Wirte an.
Hummus Auch die vielen arabischen Restaurants warten vergeblich auf Gäste, vor allem auf ihre jüdischen Stammkunden. Bei Baschar in Kfar Kassem neben dem Industriegebiet von Rosch Haayin ist am Montagmittag kein einziger Kunde zu sehen. »Sonst kommen sie alle«, klagt der Besitzer. »Unser Hummus gilt als das beste in der Gegend.« Baschar bedauert, dass es so weit gekommen ist. »Es ist furchtbar und für beide Seiten vernichtend. Und dann reden sie von heiligen Stätten und dem heiligen Land. Aber was ist daran heilig, wenn alles in Blut getaucht ist?«
15 Minuten Fahrt von Kfar Kassem entfernt dröhnt Rihanna aus den Lautsprechern. Hila Natan sitzt auf der Bank und wippt im Takt mit den Füßen. Normalerweise muss sie Schlange stehen, um ihr Auto waschen zu lassen. Heute ist sie die einzige Kundin in der Waschanlage Yellow an der Bnei Efraim Street im Norden von Tel Aviv. Die jungen arabischen Männer, die hier die Wagen polieren, haben kaum etwas zu tun.
Fühlt sie sich unwohl? »Weil ich neben den arabischen Jungs sitze?«, fragt die Frau provokativ. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber das ist nicht so wichtig. Was zählt, ist allein, dass ich gerne mit einem sauberen Auto fahre und dass ich jeden Dienstag herkomme. Von keinem Terroristen der Welt lasse ich mir das kaputt machen.« Für Natan macht die Beibehaltung des »ganz normalen Lebens« die Realität in Israel erträglich. »Auch im Umgang mit unseren arabischen Landsleuten. Selbst wenn es heute schwerfällt, müssen wir daran denken, dass wir miteinander auskommen müssen, weil wir sonst alle keine Zukunft haben.«
Allerdings gibt die Studentin zu, dass ihr der Pragmatismus nicht immer leichtfällt. »Es gibt Momente, in denen ich es kaum aushalte und meinen europäischen Pass in der Hand wiege. Aber meist geht das schnell vorbei. Ich lasse mich von niemandem vertreiben und will auch niemanden vertreiben.« Rihanna hat zu Ende gesungen, und im Radio kommt die Nachricht über die neuen Anschläge. Zwei Messerattacken an der Hauptstraße der hübschen Kleinstadt Raanana, nicht weit von hier. Hila Natan schüttelt den Kopf und steigt in ihr sauberes Auto, während die arabischen Angestellten auf der Bank sitzen und stumm auf ihre Telefone schauen.