Deutschland ist ein begnadetes Land. Es liegt gemütlich mitten in Europa zwischen lauter friedlichen Nachbarstaaten, das Klima in Berlin ist im Sommer erträglich, und im Winter haben fast alle Leute Zentralheizung, während man in Israel die kalten Wüstennächte sogar in der Hauptstadt heizungslos »genießen« darf. Zwar regnet es in dem großen Land im Norden etwas zu viel, aber wenigstens niemals Raketen.
Besonders junge säkulare Israelis bekommen schnell leuchtende Augen, wenn sie über »Germania« reden. Die Wohnungen in Deutschland sind vergleichsweise günstig, man hat nicht immer zu jedem Schabbat die ganze Familie in der Hütte, und für einen Einkauf im Supermarkt verbraucht man nicht den halben Monatslohn. Und wer das israelische Chaos durchlitten hat, kann selbst im kleinsten Dorf eine Ordnung erleben, die für jede Ausnahme von der Regel mindestens ein Hinweisschild bereithält.
kartenhaus Doch dieser Tage erreichten auch Israel Nachrichten aus Deutschland, die dieses idyllische Bild wie ein Kartenhaus zusammenbrechen ließen. Fassungslos sahen Kommentatoren im Fernsehen auf die zerstörte Postkartenidylle, die buchstäblich über Nacht im totalen Chaos untergegangen war. Immer wieder betonte man, dass die Bilder nicht aus monsungeplagten. desorganisierten südostasiatischen Staaten wie Burma oder Bangladesch stammten, sondern aus Düsseldorf oder der Eifel.
In Israel funktioniert vieles nicht, aber für wirkliche Krisen ist gut vorgesorgt.
Auch persönlich erlebte ich seit 50 Jahren zum ersten Mal, was es bedeutet, wenn man sich Sorgen um entfernt wohnende Verwandte macht. Nachdem noch im Frühjahr bei dem Raketenangriff der Hamas Freunde aus Deutschland angerufen hatten, um sich nach unserem Wohlbefinden zu erkundigen, war es nun umgekehrt.
Erleichtert erfuhr ich am Folgetag von meinem Bruder aus Erkrath bei Düsseldorf, dass es »nur« die untere Etage seines Hauses geflutet hatte und alle Familienmitglieder wohlauf waren. Mit ungläubigem Entsetzen verfolgten wir dann wie viele Israelis, wie hilflos die Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz von den Naturgewalten überrascht worden war.
APP-SYSTEM Der normale israelische Alltag ist mit Schlendrian, Unpünktlichkeit, unfähigen Staatsorganen und ständigem Chaos geradezu gepflastert, aber für die wirklich großen Katastrophen hat man in Israel gut vorgesorgt. Zwar bekommt jeder deutsche Elektriker große Augen, wenn er die verschlungenen Kabelbäume an den israelischen Häusern sieht, die offizielle Post hält sämtliche Schneckenrekorde, und es dauert oft Wochen, bis man als Journalist irgendwelche offiziellen Sprecher in Behörden erreichen kann, aber der Raketenalarm ist sekundenschnell, und vor Naturkatastrophen warnt nicht nur ein modernes App-System, sondern zuverlässig auch jedes Radio.
»Eine neue Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsländer, bis zum 21. Juni 2022 ein Warnsystem via Mobiltelefon einzuführen. (…) Wie der deutsche Innenminister Horst Seehofer bekannt gab, soll die Bevölkerung künftig auch via Push-Nachricht auf dem Handy alarmiert werden«, schreibt die »Neue Zürcher Zeitung«.
In Israel fragt man sich: Hat Deutschland die letzten zehn Jahre im Tiefschlaf verbracht?
In Israel fragt man sich: Hat Deutschland die letzten zehn Jahre im Tiefschlaf verbracht? Die deutsche Regierung war zwar durch das Europäische Flutwarnsystem (Efas) schon frühzeitig vor dem Starkregen gewarnt – die Daten dazu hatte unter anderem auch der Deutsche Wetterdienst geliefert –, aber die Menschen in den betroffenen Gegenden hatten nichts davon erfahren. Nachrichten aus Deutschland lasen sich wie Berichte aus Entwicklungsländern.
NACHRICHTEN Auch dem WDR wird zur Last gelegt, diese Warnungen »verschwiegen« zu haben. In Israel hätte das nicht passieren können. Da sind die Warnsysteme seit jeher zuverlässig mit dem Rundfunk koordiniert, und das Abhören der Nachrichten ist landesweit eine Art Volkshobby.
Gleichgültig, wo man sich gerade aufhält, ob zu Hause oder am Arbeitsplatz, im Bus, in der Bahn oder auf der Straße: Überall hört man Radio zur vollen Stunde und notfalls auch mal ununterbrochen. Stets wird da nicht nur die Wettervorhersage angefügt, sondern auch die Katastrophenmeldungen. Und wenn es im Winter Starkregen bei Tel Aviv oder Schnee in Jerusalem gibt, wandert diese Information ganz nach vorne und wird zum Aufmacher.
Dann werden die Menschen in Überschwemmungsgebieten dringend vorgewarnt, sich selbst und ihre wichtigsten Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen. Die Stadtverwaltung von Jerusalem wird aufgefordert, ihre Kettenfahrzeuge bereitzustellen, um die Autobahn nach Jerusalem freizuschaufeln. Gleiches geschieht im Fall von Waldbränden, wenn die sich mit dem Wind in Richtung der Häuser am Rande von Städten oder Siedlungen bewegen.
raketenbeschuss Noch ausgeklügelter ist das Vorwarnsystem für den Fall von Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen oder dem Libanon. Dann kreischen automatisch die Handys in den betroffenen Ortschaften oder Stadtvierteln, egal ob Großstädte wie Tel Aviv oder kleine Kibbuzim an der Grenze zu Gaza im Schussfeld liegen.
Im Fernsehen wird dann rechts unten auf dem Bildschirm eine unübersehbare Tabelle mit den Namen der akut bedrohten Orte eingeblendet. Die israelische Armee steht mit hochempfindlichen Radargeräten ihres Abwehrsystems »Iron Dome« rund um den Gazastreifen und nahe der Grenze zum Libanon. Sobald eine Panzergranate oder eine Rakete »gesichtet« wird, prüfen die Computer des Systems die Flugbahn des ankommenden Projektils und vergleichen es mit Landkarten Israels.
Ist das Zielgebiet dicht bewohnt, werden Abwehrraketen gestartet. Sollte die Rakete aber in einem Waldgebiet, auf einem offenen Feld oder auch nur nachts auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt landen und explodieren, wird sie kostensparend durchgelassen.
SIRENEN Den Israelis geht es vor allem darum, Menschenleben zu schützen. Zwar ertrinken auch in Israel immer mal wieder Einzelne, die trotz Warnung bei Starkregen ihr Auto aus der Tiefgarage holen wollen oder Überschwemmungstage für Wanderungen durch die Wüste nutzen, aber ein komplettes Versagen der Vorwarnsysteme wie jüngst in Deutschland kann man sich im jüdischen Staat nicht vorstellen.
Selbst wer sich von allen Kommunikationsmitteln abnabelt, kann sich darauf verlassen, die Alarmsirenen auf den Dächern zu hören, um noch rechtzeitig in den mit Stahlbeton ausgestatteten Schutzraum in der Wohnung, ins Treppenhaus oder in einen Luftschutzbunker zu flüchten.
Bei Überschwemmungen werden die Bürger per Rundfunk vorgewarnt.
Neben den militärischen Waffen setzen die Palästinenser im Gazastreifen auch heliumgefüllte bunte Luftballons oder Kondome ein, an denen Sprengsätze oder Molotowcocktails befestigt sind, wie gerade vor einigen Tagen wieder. Die werden dann mit dem Wind nach Israel getragen und richten dort jedes Jahr vom zeitigen Frühjahr bis weit in den Herbst schwere Verwüstungen an. Tausende Hektar Felder und Wälder werden so abgefackelt. Jedes Kindergartenkind in Israel wird darauf trainiert, keine fremden Spielsachen anzufassen, weil es sich um tödliche Waffen handeln könnte.
Und während man in Deutschland jedes Mal noch tagelang diskutiert, ob es wirklich in Ordnung ist, Soldaten als Helfer einzusetzen, gibt es in Israel die Einheit »Heimatfront«, die bei jeder Art von Katastrophe sofort im Inland einsatzbereit ist. Unter jungen Leuten in Deutschland dagegen interessiert der so nötige Beruf des Hochwasserschützers kaum jemanden.