Ein Bild mit einem Regenbogen, eins mit einem Strichmännchen, das den Papa zeigen soll, eins mit einem Ball. Das legt Tal Levy auf ein Bett neben frische Wäsche, Kleidung, neue Schuhe und Pflegeprodukte – in Erwartung seines Bruders, der an diesem Tag aus der Geiselhaft kommen sollte.
Kurz darauf, als die Live-Bilder von Al-Jazeera aus Gaza gegen 10 Uhr Or Levy, Eli Sharabi und Ohad Ben Ami zeigen, mischt sich in die unbändige Freude ein riesengroßer Schock. Die drei Männer scheinen nach 491 Tagen in Gaza völlig ausgemergelt und so schwach, dass sie sich kaum auf ihren Beinen halten können.
Als Tal Levy die ersten Fotos von seinem Bruder sieht, ist er besorgt: »Es ist sehr schwer, ihn so zu sehen, nach allem, was er dort durchgemacht hat. Aber er kommt zurück und er wird sich erholen. Er wird mit seinem Sohn Almog wieder vereint sein.«
Dann endlich fallen sich Or und Tal in der israelischen Militäreinrichtung in Re’im in die Arme. »Es ist vorbei. Es ist ok«, sagt der ältere Bruder immer wieder. Sekunden später sind auch Ors Mutter und Vater da, die ihren Sohn fest umarmen.
Etwa zwei Stunden zuvor steht der 34-jährige Israeli aus Givataim auf einer Bühne der Hamas in Deir al-Ballah im Zentrum des Gazastreifens. Wie andere Geiseln vor ihm muss auch er einen olivgrünen uniformartigen Anzug tragen. Wohl, weil die Hamas damit zeigen wollte, dass er Soldat sei. Doch Or Levy war kein Soldat, sondern mit seiner Frau Eynav am 7. Oktober auf dem Nova-Festival tanzen. Er wurde gekidnappt, Eynav ermordet.
Die Geiseln sind umringt von vermummten Terroristen
Levy steht zusammen mit Eli Sharabi und Ohad Ben Ami auf der Bühne. Die beiden anderen Männer haben hellbraune Jogginganzüge an, auf der Brust sind Aufkleber, die sie selbst als Geiseln zeigen. Ohad trägt eine Sonnenbrille. Sie sind umringt von vermummten Terroristen mit Maschinengewehren im Anschlag, die die Fäuste ballen.
Hinter ihnen auf einem Banner der Satz auf Arabisch, Hebräisch und Englisch: »Wir sind die Flut. Wir sind der Tag danach« in Anspielung auf die Diskussionen, vor allem in Israel und den USA, um die Macht in Gaza, am Tag nach dem Krieg.
Obwohl die drei Israelis offensichtlich schwach sind, werden sie gezwungen, mehrere Minuten lang über die Notwendigkeit der weiteren Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens zu sprechen.
»Ich wurde gut und mit Respekt behandelt und beschützt«, muss Ohad Ben Ami ins Mikrofon der Hamas sprechen. Er war der Mann, der während des Massakers der Hamas in Boxershorts aus seinem Bett im Kibbuz Be’eri gekidnappt wurde.
Kurz nach der Veröffentlichung der ersten Bilder der Freilassung schreibt der israelische Präsident Isaac Herzog auf X: »So sieht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus!« Die ganze Welt müsse auf Ohad, Or und Eli blicken, die nach 491 Tagen Hölle, ausgehungert, abgemagert und leidend zurückkehren und in einem zynischen und grausamen Schauspiel von abscheulichen Mördern ausgebeutet werden. «Wir finden Trost in der Tatsache, dass sie lebend in die Arme ihrer Lieben zurückkehren.«
70 Prozent der israelischen Öffentlichkeit sind für die Fortsetzung der zweiten Phase des Abkommens.
Diese Freilassung gehört zur ersten Phase des Abkommens über Waffenstillstand und Geiselbefreiung zwischen Israel und der Hamas. Es ist die fünfte Gruppe von verschleppten Menschen, die aus Gaza freigelassen worden.
In Phase eins des Deals sind noch drei weitere Teile vorgesehen, wobei von den 33 dabei freizulassenden Geiseln derzeit noch 17 von der Terrororganisation festgehalten werden. Acht von ihnen sind für tot erklärt. Insgesamt befinden sich derzeit noch 76 Geiseln in der Gewalt der Hamas im Gazastreifen.
Kurz nach der Übergabe der Geiseln an das Rote Kreuz transportieren israelische Sicherheitskräfte mehrere Gruppen palästinensischer Gefangener aus verschiedenen Gefängnissen in Israel. Insgesamt werden an diesem Samstag 183 palästinensische Häftlinge freigelassen. Unter ihnen sind 111 Gazaner, die nach dem 7. Oktober 2023 festgenommen worden waren. 72 von ihnen waren Sicherheitsgefangene, darunter 18, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden waren.
70 Prozent der israelischen Öffentlichkeit sind für die Fortsetzung der zweiten Phase des Abkommens. Dies geht aus einer am Freitag ausgestrahlten Fernsehumfrage von Channel 12 hervor.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der sich über das Wochenende in Washington aufhielt, gab eine Erklärung nach der Freilassung der Geiseln ab: »Wir werden die schockierenden Szenen, die wir heute erlebt haben, nicht ignorieren und angemessene Maßnahmen ergreifen.” Er lehnte es jedoch ab, näher darauf einzugehen, welche Maßnahmen genau gemeint waren.
Lapid kritisiert Netanjahus Aussagen
Oppositionsführer Yair Lapid antwortete darauf: »Netanjahu, haben Sie erst jetzt herausgefunden, dass die Geiseln in einem schlimmen Zustand sind? Es stand in den Geheimdienstberichten, die Ihnen in den letzten Monaten auf den Tisch gelegt wurden. Sie haben diese Berichte genauso gesehen wie ich. Wenn Maßnahmen ergriffen werden müssen – warum haben Sie die nicht früher angeordnet?«
Der Vater von Yehuda Cohen, einem israelischen Soldaten, der nach wie vor in Geiselhaft ist, kritisierte Netanjahu mit den Worten: «Während Netanjahu auf Kosten der Steuerzahler und Geiseln in einem Luxushotel ist, werden israelische Bürger aus der Gefangenschaft der Hamas freigelassen und sehen aus wie Holocaust-Überlebende.”
Das Forum der Familien von Geiseln schrieb in einer Erklärung: »1945 ist jetzt! Die schrecklichen Bilder von Ohad, Eli und Or zeigen die verheerende Bilanz von 491 Tagen in Hamas-Gefangenschaft. Wir müssen alle Geiseln aus der Hölle holen. Es darf keine weiteren Verzögerungen geben – eine zweite Phase des Geiselabkommens muss sofort umgesetzt werden!«
Eli Sharabi hat ein unerträglich grausames Schicksal
Besonders ausgemergelt sah Eli Sharabi aus. Der Mann aus Be’eri hat ein unerträglich grausames Schicksal: Seine Frau Lianne und die Töchter Noiya, 16 und Yahel, 13, wurden von Terroristen in ihrem Haus ermordet. Elis Bruder Yossi wurde mittlerweile von der israelischen Armee für tot erklärt, er war vermutlich bei einem Angriff der israelischen Armee gegen Terroristen in Gaza ums Leben gekommen.
Von all dem, von der Ermordung seiner Familie, wusste Sharabi nach ersten Berichten nichts. Er soll, so schreibt die Times of Israel, nach seiner Familie gefragt haben.
Aus demselben Kibbuz wie Eli Sharabi ist auch Ella Ben Ami. Sie rief am Morgen des 7. Oktober 2023 in der Nachrichtensendung von Channel 12 an, um mitzuteilen, dass es Terroristen in Kibbuz Be’eri gebe, Menschen ermordet würden – und dass beide Eltern entführt worden seien.
Am Samstag erzählt sie demselben Fernsehsender von ihrer Erleichterung und Freude über die Freilassung ihres Vaters, Ohad Ben Ami. Ihre Mutter Raz kam im November 2023 frei.
»Ich brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, dass es Papa war«, sprach sie am Samstagmorgen in die Kamera. «Aber er ist lebend zurückgekommen. Er ist stark. Er hat es überlebt!« Und jetzt «möchte ich ihn einfach nur umarmen”.
Als sie, ihre Schwestern und Mutter ihn schließlich im Krankenhaus in die Arme schließen, sagt Ohad immer wieder, wie hübsch sie aussehnen und welche Freude sie seien, «welche Freude ...”
»Mein Herz hüpft vor Freude. Jetzt kommt Or endlich zu uns zurück«, sagt Ors Mutter Geula.
Ein weiterer, der genauso sehnsüchtig auf die Umarmung seines Vaters wartete, ist der dreijährige Almog. Er hatte seinen Vater ein Jahr und vier Monate nicht gesehen. «Mein Herz hüpft vor Freude. 16 volle Monate lang musste unser kleiner Agam ohne seine Mutter und seinen Vater sein. Jetzt kommt Or endlich zu uns zurück. Ich kann es noch nicht glauben”, sagte Ors Mutter Geula, während ihr Freudentränen über die Wangen liefen. »Als wir Almog sagten, ›wir haben deinen Papa gefunden‹, sprang er vor Freude ausgelassen auf seinem Bett herum.«
Or und seine Frau Eynav hatten sich als Teenager in der Oberschule kennengelernt. Sie waren Seelenverwandte, sagten Angehörige und Freunde. Das Paar liebte es, gemeinsam zu reisen. Dann, 2021 kam ihr Sohn Almog auf die Welt. Das Glück der beiden war perfekt.
Am Abend des 6. Oktobers 2023 wollten sie tanzen gehen. Almog ließen sie bei den Großeltern, die gern Babysitter spielten. Einav wurde in den Morgenstunden des 7. Oktobers ermordet. Seinen Aba hat der kleine Almog jetzt, nach 16 endlosen Monaten, endlich wieder.